Joachim
Erinnert ihr euch noch als in den 1990ern die Handys aufkamen? Zunächst war es nur ein Phänomen der Angeber, die glaubten immer erreichbar sein zu müssen, und der armen Schweine, die tatsächlich immer erreichbar sein mussten. Aber ziemlich bald war es ein Massenphänomen. Nach so vielen Jahren extensiver Handynutzung, sollte es sich doch eigentlich herumgesprochen haben, dass die Strahlung nicht wirklich schädlich sein kann. Was, meint ihr, ist die beste Möglichkeit, Zweifler davon zu überzeugen, dass Handystrahlung harmlos ist?
Dierk
Wenn ich überlege, wie lange es bereits Funktelefone gibt – das geht ja noch weiter zurück, wurde ab den 90ern nur eine Massenbewegung -, sollte das den Menschen schon sagen, dass es da nichts gibt. Immerhin ist in der Zeit, in der die Mobilfonnutzung massiv zugenommen hat, eine Steigerung der Hirntumorraten ausgeblieben.
Joachim
Das ist auf den Punkt geantwortet, da könnten wir jetzt aufhören zu diskutieren. Aber ich glaube nicht, dass Statistik die Menschen beruhigen kann. Es ist sicher richtig, dass Handystrahlung das Risiko einer schweren Krankheit nicht messbar erhöht, sonst wäre es längst gemessen worden. Aber als einzelner Mensch frage ich nicht nach Wahrscheinlichkeiten, sondern ob ich durch Handystrahlung erkranken könnte. Es ist ein bisschen wie mit dem Lotto-Spielen: Das Ausfüllen eines Lottoscheins erhöht meine Chance, Millionär zu werden, kaum. Dennoch spielen viele Menschen Lotto mit der Hoffnung auf einen Hauptgewinn. Genau so erzeugt allein der Gedanke Angst, man könnte durch Handystrahlung so was Furchbares wie Krebs bekommen. Dass fast alle anderen es nicht bekommen, ist da kein Trost.
jhermes
Doch, ich glaube, Fakten können helfen, wenn man sie denn auch wirklich anbringt. “Wäre es schon längst gemessen worden” ist keine stichhaltige Aussage. Was ist denn die durchschnittliche Inkubationszeit von Gehirntumoren? Wenn die erst nach 25 Jahren eine Größe erreichen, die ihre Entdeckung möglich macht, dann ist die Handystrahlung-induzierte Tumorwelle einfach noch gar nicht aufgelaufen. Nicht, dass ich das für wahrscheinlich halten würde, aber genau eine solche Gedanken können Leuten Angst machen, v.a. weil der Begriff “Strahlung” bei den meisten übel konnotiert ist. Vielleicht hülfe da eine Belehrung zum Unterschied von ionisierender und nicht-ionisierender Strahlung?
Lars
Ich denke auch, dass es erst einmal sinnvoll ist, die Ängste ernst zu nehmen, und entsprechend die Studien anzusprechen, die eine positive Korrelation zwischen Hirntumoren und Handys gefunden haben. Der Punkt ist ja, dass selbst in den Studien die absolute Inzidenz der Tumore extrem gering ist. In den Medien stehen dann halt nur immer die relativen Wahrscheinlichkeiten drin. Man kann dann erstmal quasi als worst-case-Szenario erklären, dass selbst das größte jemals in einer Studie gefundene Risiko in realen Zahlen immer noch winzig ist.
Dierk
Es ist ja nicht so, als hätten Physiker, Mediziner und Epidemiologen nicht immer wieder die Fakten erläutert. Und zwar seit die Angst vor den unsichtbaren Strahlen in den 1950ern aufkam. Meines Wissens gibt es eine bis heute andauernde Langzeitstudie zur Gesundheitsgefährdung durch Hochspannungsmasten in den USA mit zigtausenden Teilnehmern. Ergebnis bisher: Nada, da muss weiter gekuckt werden, bis irgendjemand eine schwache Korrelation zu irgendwas findet.
Der Physiker Robert L. Park schickt seit Ewigkeiten Newsletter, in denen praktisch jedes zweite Mal – nämlich immer dann, wenn ein SPON-Pendant in den USA lauthals schreit ‘Handys machen TOT!!!!’ – erklärt wird, weshalb das gar nicht angehen kann. So wie es aussieht reicht die Energie bei Handystrahlung gar nicht aus, Molekülbindungen zu knacken. Aber interessiert das großartig? Nö, Journalisten nehmen das vielleicht wahr, aber schreiben dazu nicht, weil es keine gute Story ist.
Fakten interessieren Menschen nur selten, im Grunde immer nur dann, wenn sie zufällig mit dem übereinstimmen, was sie eh glauben. Keine sonderlich neue Erkenntnis, für sich genommen auch nicht mehr als eine ziemlich schreckliche Zustandsbeschreibung unserer, menschlicher, kognitiver Fähigkeiten. Aber man kann was draus machen: Geschichten erzählen.
Wir lieben Geschichten – Märchen, Mythen, Fantasy [und in gewisser Weise ist jede fiktionale Geschichte Fantasy]. Genau das nutzen die Eso-Schlabbersäcke aus, sie erfinden schöne Märchen.
Joachim
Da hast du wohl recht, Dierk, die Fakten sind bekannt. Wer sie wirklich wissen will, kann sie nachlesen. Das Problem liegt tiefer, nämlich in einem falsch verstandenen Skeptizismus, der nicht skeptisch gegen Tatsachenbehauptungen sondern gegen jede Art von Entwarnung ist. Die modernen Skeptiker hinterfragen nicht, ob es realistisch ist, dass Mobilfunkwellen Krankheiten auslösen. Sie nehmen jeden noch so weit hergeholten Wirkmechanismus für voll und erwarten von der Wissenschaft, die Unmöglichkeit zu beweisen.
Da wimmelt es dann von Annahmen, es könne unerforschte Resonanzen mit der Zellmembran oder mit Quantenschwingungen in den Molekülen geben und weil wir Wissenschaftler nicht mal wissen, was mit diesen Erklärungen gemeint ist, können wir sie auch nicht widerlegen.
Wir brauchen also nicht mehr Informationen über Wirkmechanismen. Wir brauchen auch nicht mehr statistische Informationen. All das haben wir. Was fehlt ist das Verständnis, wie Wissenschaft funktioniert.
Meiner Kenntnis nach gibt es zumindest zwei validierte Erkenntnisse über die Wirkung von Handy-Strahlung auf den menschlichenOrganismus (die genauen Quellen Angaben habe ich nicht zur Hand, stammt beides aus dem deutschen Ärzteblatt):
1. Thermische Wirkung bei Vieltelefoniereren auf die Hirnregion der zum telefonieren bevorzugten Kopfseite. Teilweise auch mit bildgebenden Verfahren nachweisbare dauerhafte Veränderungen, aber keine Belege für maligne Wirkung.
2. Signifikante Reduzierung der Fruchtbarkeit von Männern, die das Mobiltelfon häufig in der Hosentasche haben. Vermutet wird hier auch eine thermische Wirkung.
Die Alternativmediziner und die Esotheriker verkaufen etwas, das die moderne Medizin so nicht bieten kann: Einfache Erklärungen und Hoffnung. Das kann man wunderbar beim Thema Krebs sehen – eigentlich ist Krebs ja der Sammelbegriff für verschiedene, extrem unterschiedliche Krebsarten und wir wissen immer noch nicht genau, wie er ganz genau entsteht. Im Endeffekt ist es aber ein Fehler in der Zellsteuerung, der schlicht und einfach irgendwann auftreten kann. Bestimmte Stoffe können die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, aber Krebs kann jeden ohne besondere Ursache einfach so treffen. Je älter man wird, desto wahrscheinlicher wird es auch, dass irgendwann etwas in der Zellregulierung schief geht. Das ist eine zutiefst verstörende Erkenntnis – man kann nämlich nichts dagegen tun.
Wenn die Gleichung “Handy ans Ohr = Krebs” lautet, dann ist der Umkehrschluss “Kein Handy = kein Krebs”. Oder eben “Kein Essen in der Mikrowelle warm machen = Kein Krebs” oder “Linksdrehend gefiltertes Wasser = kein Krebs”. Einfache Lösungen für hochkomplexe Themen, auf die die Medizin kaum eine menschliche Erklärung geben kann. Religionen und Ideologien beziehen ihre Wirkungskraft aus ihrer Funktion als Komplexitätsreduzierer, Welterklärungsmodell und Hoffnungsbringer, Pseudomedizin ebenfalls.
O.k., wie es aussieht, brauchen wir als erstes einen verpflichtenden Logikkurs zur Vermeidung falscher Umkehrschlüsse.
Glauben und Logik widersprechen einander. Mhm. Das war gerade ein Satz, der mit einem logischen Operator hantierte. Wenn nun jemand sagt, dass er das nicht glaubt, dann hätten wir gleich einen performativen Nachweis für diesen Zusammenhang.
Wenn Menschen aber dazu in der Lage sind, etwas zu glauben, obwohl es unlogisch ist, gelangen wir zu dem Problem, ob die Wissenschaft die Religion auf dem Feld des Glaubens besiegen kann/sollte, und was dafür die Bedingungen wären.
Das hat sich jetzt ein bisschen zu sehr nach Vulkanier angehört, als dass Ihr mir weiter glauben würdet, dass ich mich nicht auf einer interstellaren Beobachtungsmission befinde, oder? Und das, obwohl es unlogisch wäre.
Pingback: Geschichten werden gemacht | KneipenLog
Dierk sagte “Wir lieben Geschichten – [...] Genau das nutzen die Eso-Schlabbersäcke aus, sie erfinden schöne Märchen.” Das ist einerseits eine gute Bestandsaufnahme, andererseits sollte uns aber doch auch genau dies antreiben, die besseren Geschichten zu schreiben. Ja, es ist schwierig, weil die Welt so komplex und die von [Esoterikern, Verschwörungstheoretikern, Alternativmedizinern, beliebige Schlabbersackgemeinschaft einfügen] angebotenen Lösungen so einfach wie falsch sind. Müssen wir uns halt anstrengen, wenn wir die Butter nicht vom Brot genommen bekommen wollen. Dazu sind wir ja vielleicht auch hier, im Kneipenlog.
Sicherlich müssen wir uns mehr anstrengen. Ich fürchte allerdings, dass es kurz- und mittelfristig kaum etwas nützt. Geschichten folgen bestimmten Strukturen, Rezipienten erwarten bestimmte Figurenkonstellationen. Es gibt keine Geschichten ohne Konflikt, mag dieser auch noch so innerlich oder trivial sein. Selbst in unserem Alltag bauen wir uns eine Welt aus Guten [wir] und Bösen [Nachbar; der Typ in dem BMW, der gerade sehr knapp vor mir rein ist; der Hausmeister ...].
Auch immer gerne genommen, ist die Geschichte vom kleinen Mann, der sich gegen die Großen durchsetzt. David gegen Goliath – wobei Goliath immer die Anderen sind, die Industrie sowieso, die Regierung, die Wissenschaft[ler]. Man selbst ist immer Jerry, nie Tom.
Immerhin lassen mich die Atombombenhysteriefilme der 1950er vermuten, dass die Menschen langfristig umdenken.
Die Diskussion wurde ausgelagert und geht hier weiter.
Ein wesentlicher Punkt ist meines Erachtens, dass sich Wissenschaft nicht auf statistische Erhebungen reduzieren lässt. Wenn wir nur lange genug suchen, werden wir immer eine Krankheit finden, die signifikant mit dem Telefonierverhalten der Erkrankten korreliert. In die eine oder andere Richtung.
Wissenschaft besteht nicht nur aus der Erhebung von Daten. Korrelation ist nicht Kausalität. Deshalb muss letztlich Theorie und Experiment zusammengehen. Viele viele Statistiken plus Confirmation-Bias geben keine Evidenz.
Kann man eigentlich mit Experimenten nicht auch Kausalität herausfinden, dass z.B. grüne Jelly Beans Akne wirklich verursachen. Denke gerade darüber nach.
Wenn Du auf den Bildtext guckst (ich rede von xkcd, ist klar, nicht wahr) dann steht da:
Das ist meines Erachtens der springende Punkt: Naiver Empirismus funktioniert nicht. Ohne Theorie können wir keine gesicherte Erkenntnis erlangen. Deshalb ist ja auch der Begriff “Evidenzbasierte Medizin” umstritten. Wissenschaftlichkeit braucht mehr als Evidenz.
Durch mehr Naturwissenschaft in der Schule werden spätere Generationen kaum beurteilen können, was an Berichten über Themen ähnlich denen heute über Handystrahlen oder Klimaerwärmung — also was in Zukunft relevante Themen sein werden — wirklich wissenschaftlich dran ist. Es sind immer sehr komplexe Zusammenhänge denen wir ratlos gegenüberstehen. Auch zunächst als Wissenschaftler.
Ich bin fast geneigt, Medienkompentenz in Spiel zu bringen (nicht für Grundschüler …) — wobei es dann mitnichten um das Internet allein ginge
Dass “in der öffentlichen Diskussion der gleiche Raum eingeräumt” wird für Themen völlig unterschiedlicher Relevanz und Wahrheitsgehalt, das scheint mir schon eher das Problem. Wenn ich gelernt habe an gewissen Merkmalen die Seriosität festzumachen, dann verschiebt sich (zum Glück noch) dieses Verhältnis.
Deswegen ist es natürlich auch wichtig, dass man die bei Handystrahlung zunächst einmal berechtigten (!) Ängste ernst nimmt. Im Prinzip haben wir hier bis heute empirisch herausgefunden, dass sie wohl nicht viel bewirken. Netter Feldversuch. Das ist auch ein Aspekt, den wir im Nachhinein nicht vergessen sollten. Die Klimaveränderungen und deren Ursachen sind ebenso ein Feldversuch, nur wird der Ausgang wohl anders aussehen. Soviel können wir heute schon sagen.
Wir rennen also im Prinzip erstmal dem Machbaren hinterher. Mehr Naturwissenschaft in der Schule wird eher zu mehr Machbaren führen. Nicht zu mehr Verantwortung. Diese brauchen wir so nötig.
Mit “mehr Naturwissenschaft” meine ich nicht mehr spezifisches Wissen – ich gebe Dir völlig recht, es bringt nicht viel, spezifische Themen im Detail auszubreiten, wenn alle paar Jahre was Neues durchs Dorf getrieben wird.
“Wenn ich gelernt habe an gewissen Merkmalen die Seriosität festzumachen..” – genau das meine ich. Dazu reicht aber Medienkompetenz alleine nicht, man muss auch gelernt haben, wie Wissenschaft funktioniert. So gesehen, schliessen sich “mehr Machbarkeit” und “mehr Verantwortung” nicht aus, im Gegenteil. Je mehr Menschen beurteilen können, was Wissenschaftler (und solche die sich dafür halten) treiben und je mehr Leute sich halbwegs kompetent in die Debatten einmischen, umso eher wird verantwortlich mit dem Machbaren umgegangen. Dass eine wissenschafts-und medienkompetente Öffentlichkeit für einzelne Forscher und zweifelhafte neue Technologien nicht bequem wäre, ist auch klar.
“Dazu reicht aber Medienkompetenz alleine nicht, man muss auch gelernt haben, wie Wissenschaft funktioniert.”
Stimme zu. (Frage mich nur, wie hoch der Prozentsatz am Ende sein kann. Aber das ist eben eine andere Frage.)
“Was fehlt ist das Verständnis, wie Wissenschaft funktioniert.” – Da kann ich Quantenwelt nur zustimmen. Wie soll denn der “Normalbürger” bei der Zeitungslektüre auseinanderhalten können, was eine wissenschaftlich fundierte Studien ist und was substanzlose Panikmache? Beidem wird in der öffentlichen Diskussion der gleiche Raum eingeräumt und für das nicht-trainierte Auge scheint eben ein Bericht über die Gefahren der Handystrahlen genauso plausibel wie ein Bericht über die Gefahren der Klimaerwärmung. Wahrscheinlich muss man da schon in der Schule , ja, in der Grundschule ansetzen. Weniger Detailwissen im naturwissenschaftlichen Unterricht, dafür mehr “Wie Wissenschaft funktioniert” ? Vielleicht auch keine 3 Stunden Reli-Unterricht , wie in der bayrischen Grundschule, dafür etwas mehr Naturwissenschaft und kritisches Denken?