christorolia
Transparenz, was für ein Begriff! Heutzutage. Früher, in den 70er/80er Jahren, habe ich noch Funktionen auf transparentes Millimeterpapier gezeichnet oder auf Transparenzpapier mit Tuschefüller Landkarten erstellt. Heute bin ich selbst zum Transparenzpapier geworden, Teil der Transparenzgesellschaft.
Ich glaube ja, dass Distanz und Scham sich nicht in die heutige “beschleunigte” Welt integrieren lassen, sie passen nicht in die schnellen Kreisläufe des Kapitals, der Information und Kommunikation. Alle diskreten Rückzugsräume werden – im Namen der Transparenz – beseitigt, die Welt wird schamloser und nackter. Schlecht!
Erbloggtes
Aber christorolia, sei doch nicht so kulturpessimistisch! “Schlecht!” ist das nur, wenn es menschenfeindlich oder lebensfeindlich wird. Es gibt solche Transparenzentwicklungen und ganz andere, die sich menschenfreundlich auswirken. Beängstigend ist auf einer Meta-Ebene die Machtlosigkeit, die eine selbstbestimmte Steuerung verhindert, was wie transparent ist.
Mir sagen verschiedene Leute, dass ich ohnehin so transparent bin, dass ich meine Identität nicht hinter einem Bierglas verstecken brauche (das spätestens dann auch transparent ist, wenn es nicht mehr mit dunklem Stout gefüllt ist). Flächendeckende Internetüberwachung, Schreibstilanalyse und die Auswertung von massenhaft anfallenden Daten fänden so viel über mich heraus, dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Anonymitätsoption im Internet pure Augenwischerei sei. Das gilt für den Staat, der mit ein paar Klicks (vielleicht auch nach richterlichem Beschluss) meine Daten kombinieren könne und dann alles über mich wisse, ebenso wie für Google, Facebook und Twitter. Ich finde, die potentiellen Fähigkeiten von Staat, Google und Co. müssen gesetzlich in so enge Ketten geschmiedet werden, dass nur die Verknüpfung von bewusst öffentlichen Daten möglich ist.
christorolia
Du hast Recht, ich hätte nicht bewerten sollen (“schlecht”), denn so entsteht ein falscher Eindruck. Ich will und kann die Zeit nicht zurück drehen, ich bin auch weit davon entfernt, wegen zunehmender Transparenz pessimistisch zu sein. Ich versuche nur, mich selbst zu beobachten und zwar dabei wie Transparenz auf mich wirkt, wie sie mich beeinflusst. Hierzu das auslösende Beispiel: Kürzlich gab es zum wiederholten Mal einen Streit in der Führungsriege der Piraten. Dieser Streit auf eher persönlicher Ebene wurde in der Öffentlichkeit breit getreten, “transparent” gemacht. Was bewirkt das? Dieses Mehr an Information und Kommunikation erhellt die Welt nicht, diese Art der Durchsichtigkeit macht nicht hellsichtig, bringt kein Licht ins Dunkel. Die “Informationen” ebnen ein, lenken ab. Es sind kaum mehr Berge – also wesentliche Dinge, in diesem Fall echte politische Auseinandersetzung – zu erkennen vor lauter persönlicher Nacktheit.
Erbloggtes
“Alle Leute mögen Klatsch”, meinte jüngst eine selbsterklärte Qualitätsjournalistin. Das ist aber falsch. Die Quantitätspresse mag Klatsch. Das projiziert sie auf das Publikum, und das Publikum übernimmt das. Gleichzeitig sind die Medien im Kern sowas von desinteressiert an echter politischer Auseinandersetzung. Wo kämen wir auch hin, wenn das Publikum Argumente vorgeführt bekäme und sich eine echte Meinung dazu bilden würde. Dann wäre Politik ja plötzlich nicht mehr alternativlos.
Die Piraten sind auch nur Kinder dieser Gesellschaft. Sie machen größtenteils nur das, was sie gelernt haben – hegen ja auch den Wunsch nach Normalität. Nur setzen sie dazu neue Gadgets ein. Was man schon daran erkennt, dass behauptet wurde, der Streit sei per SMS ausgetragen worden. Dabei handelte es sich wohl um andere Kommunikationsmittel, die so neu sind, dass ich nichtmal den Namen kenne. Die zweite Veränderung neben den Gadgets ist die nivellierte Öffentlichkeit: Man braucht keine Kumpels in den Redaktionen mehr, die etwas über das uneheliche Kind des Parteivorsitzenden schreiben, um mit Privatem Politik zu machen. Man kann es einfach ins Blog setzen. Durch die oben erwähnte Klatsch-Erwartung wird das dann schon verbreitet. Politik 1.0 im Web 2.0.
Zum Thema Transparenz gehört noch eine zweite, gerne unterschlagene Komponente: Toleranz. Nehmen wir etwa mal eine der Dinge, die gerne versteckt wird: Sexuelle Orientierung. Die meisten sind nicht ganz offen damit, ob sie etwa homosexuell sind oder einen bestimmten Fetisch haben. Das sind aber gleichzeitig Dinge, die durch Datenverarbeitung schnell öffentlich werden können. So kann man etwa aus den Facebook-Freunden recht einfach herausfinden, ob jemand schwul ist. Und die Google Suchanfragen verraten das auch recht schnell. YouPorn weiß das eh.
Wir brauchen daher gleichzeitig mit dieser zunehmenden Transparenz auch eine gesellschaftliche Toleranz. Wenn der Staat die Facebook-Daten scannt und erstmal alle wegen Verstoß gegen §175 anklagt, dann ist Transparenz schädlich. Kommt sie zusammen mit Toleranz, haben wir die Chance auf eine bessere Gesellschaft.
Die Piraten bekommen gerade fleißig die fehlende Toleranz ab: Andere Parteien streiten sich auch gerne, dort dringt aber nicht nach außen, was etwa zwischen Merkel und Schavan besprochen wurde. Daher greifen die Medien jeden “Skandal” der Piraten fleißig auf, was dann zu einem schiefen Bild in der Öffentlichkeit führt. Dabei ist das IMHO sogar die bessere Variante, um Politik zu machen – ich hab lieber einen öffentlichen Streit als Hinterzimmergemauschel.
Ich sag’s mal, wie ich es auf Twitter sagte: Transparenz geht von oben nach unten, nicht umgekehrt.