dahlem
Ein schön gezapftes Pils, bitte.
In Schottland wäre ein Glas Bier nun randvoll, ich erwarte eine feinporige Krone. Dort hat man aber auch eher eine emotionale Bindung zum Single Malt. Von diesem hat Michael Krämer, theoretischer Physiker in Aachen, zuviel getrunken und im Wissenschaftsblog Life and Physics über die anthropische Landschaft der Physik philosophiert. Krämer spricht viel Interessantes an, ich will mich aber auf eine Sache beschränken.
Das “Natürlichkeitskriterium”. In einem ArXiv-Artikel fand ich eine schöne allgemeine Betrachtung: nämlich dass zwar fast jeder Zweig der Wissenschaft seine eigene Version des Natürlichkeitskriteriums hat. Von den Umweltwissenschaften, wo es darum geht, frei von menschlichen Einfluss zu sein, bis zur Mathematik, wo es mit der Intuition für bestimmte grundlegende Begriffe zusammenhängt. Oder in der Linguistik als Qualitätsurteil übersetzter Sätze. Doch – Überraschung? — ganz besonders hat dieses Kriterium eine fundamentale Rolle in der Teilchenphysik.
Grob gesagt fordert dieses Kriterium, dass alle Terme in den Grundkräften in der Größenordnung 1 vorliegen. Das war, als ich selbst noch in Aachen studierte, sicher die erste wunderliche Forderung, mit der ich konfrontiert wurde. So etwas kannte ich aus der Schulphysik nicht. Bis dahin habe ich nicht mal daran gedacht, dass ich es als Problem empfinden sollte, dass die Grundkräfte der Physik um viele viele Größenordnungen auseinander liegen. Letztlich kommt hier Schönheit ins Spiel. Ich bin zutiefst überzeugt, dass das Natürlichkeitskriterium in der Physik wahrhaft ist. Die Schönheit einer solchen Theorie habe ich als Argument zu bieten, mehr nicht; eine emotionale Aussage, fürchte ich. Wie geht es Euch?
Dierk
Ich hatte die Normalisierung immer für eine rein praktische Konvention gehalten, die je nach Eben das Rechnen erleichtern soll. Es gibt natürlich eine Frage in allen axiomatischen Wissenschaften, das bis heute nicht gelöst ist: Ist das wahr?
Woran erkennen wir, dass ein Axiom, eine Prämisse korrekt ist? Wie können wir entscheiden, welches konkurrierende Erklärungsmodell wir wählen müssen, wenn es der Wirklichkeit entsprechen soll. Aristoteles Kriterium, von zwei Aussagen, die die Fakten gleich gültig beschreiben, diejenige zu bevorzugen, die weniger Voraussetzungen benötigt [auch bekannt als Ockham's Razor, nach William of Ockhams] ist ja kein Wahrheitskriterium. Es stellt auf Schönheit ab, auf Harmonie, auf die Idee, dass die Natur nichts komplizierter macht als nötig.
dahlem
Es geht um mehr als Normalisierung. Nimm ein Elektronen und Proton und vergleiche deren elektrische Anziehung mit deren Gravitationskraft. In einer umfassenden Theorie müsste dieser Unterschied erklärt werden. Er kann nicht (auf trivialen Weg) wegnormiert werden, so wie wenn ich nur eine Kraft betrachte. Vielleicht kann man hier Wikipedia nicht vertrauen, aber dort findet sich die Aussage bezüglich Ockham’s Razor: “It is not always compatible with Occam’s razor, since many instances of “natural” theories have more parameters than ‘fine-tuned’ theories such as the Standard Model.” Ich denke, das ist richtig.
Demnach ist Natürlichkeit also nicht gleich Sparsamkeit. Das gilt ja gerade auch für Schönheit.
Joachim
Ich nehm auch ein Pils!
Spannendes Thema, ich glaube, Schönheit wird in Physikalischen Theorien heute erwartet, weil sie in der Vergangenheit so oft einen guten Anstoß gegeben hat. Kopernikus hat zum Beispiel nicht die Weltsicht revolutioniert, weil er die Menschheit so gern vom Thron stoßen wollte, sondern weil er an die Harmonie des Weltalls glaubte. Wirklich religiös glaubte. Kreisbahnen, als harmonischste aller Bewegungsarten, ließen sich aber nur erreichen, indem er die Sonne in den Mittelpunkt des Universums rückte. Kopernikus glaubte mehr an die Schönheit des Universums als an die Genauigkeit von Naturbeschreibungen. Sein Weltbild war harmonischer aber ungenauer als das von Ptolemaios.
Ähnlich ging auch Einstein vor, der einfach daran glaubte, dass die Welt irgendwie einfach und harmonisch beschrieben werden kann. Ohne Rückgriff auf einen unmessbaren Äther oder auf den Zufall. Im ersten Fall lag er richtig und begründete die Relativitätstheorie, mit der zweiten Auffassung widersprach er der Quantenmechanik und lag vermutlich falsch.
Das weckt bei mir Zweifel. Die Teilchenphysiker suchen jetzt nach Supersymmetrie und Vereinheitlichung der Kräfte. Aber wer sagt uns, dass die Natur in jedem Fall einfach und harmonisch sein muss? So einfach ist das nicht, sagt mir mein Gefühl, und doch glaube ich, dass theoretische Physikerinnen und Physiker nur Erfolg haben können, wenn sie keine Angst von Metaphysik haben. Wenn sie ein starkes Gefühl dafür entwickeln, wie die Welt sein müsste.
dahlem
Verlegen wir damit die Frage nicht schlicht in die Vergangenheit? Warum erwarteten Forscher damals Harmonie? — Das ist übrigens ein vielleicht sogar passenderer Begriff als Schönheit. Das Beispiel von Kopernikus ist interessant, sowie — zum weiterlesen — das von Kepler, der die Anzahl unserer damals noch neun Planten erklären wollte und scheitern musste, wie Pluto leidvoll weiß, da in diesem Fall eben kein natürliches Prinzip dahinter steckt.
Feynman äußert sich hingegen anders, ihm scheint das Natürlichkeitskriteriums egal.
Mir kommt das Kriterium ja ein wenig wie ein Religionsersatz vor. Vielleicht ist es aber gar noch banaler. Der Akt des Denkens ist ja darauf angewiesen eine Erkenntnis zu formen. Vielleicht unterliege ich mit meinem Glauben an das Natürlichkeitskriteriums dem Trugschluss, dass dieses Formen konvergent sein muss und zu immer einfacheren Urformen führt.
Wird sich das Natürlichkeitskriterium wirklich nicht bestätigen lassen, dann täte es mir aber schon Leid für die liebe Physik.
Joachim
Kepler kannte neun Planeten? Meines Wissens waren es damals noch sieben. Mond eingerechnet. Uranus, Neptun und Pluto wurden erst später entdeckt. Aber das nur am Rande.
Bei Kopernikus war die Harmonie nicht Religionsersatz. Seine Naturkunde war klar religiös motiviert. Er wollte die göttliche Harmonie in der Planetenbewegung finden und dazu gehörten Kreisbahnen. Bei Einstein war es wohl komplexer. Er hatte ein starkes, beinahe religiöses Gefühl dafür, dass physikalische Gesetze einfach sein müssen und das hat ihn ja auch auf die richtige Bahn gebracht. Aber das einfachst mögliche ist die allgemeine Relativitätstheorie ja nun nicht gerade. Newtons Vorstellung von Raum und Zeit ist einfacher.
Aktuell sind in der Teilchenphysik Symmetrien der Schlüssel zur Erkenntnis. Ohne die ganzen Symmetrien wäre der Teilchenzoo fast undurchschaubar. So können wir immerhin ein Rezept angeben, wie aus den paar Quarks und Leptonen alles andere ausgebaut ist und wie die vier Bosonen der elektroschwachen Kraft zueinander stehen. Aber auch hier sehe ich nicht, dass das die höchstmögliche Symmetrie ist. Wäre nicht eine Welt mit ausschließlich Protonen, Elektronen und elektrischer Kraft viel einfacher und könnte genau dieselbe Chemie hervorbringen?
Irgendeine Form von Harmonie ist meines Erachtens notwendig um Physik zu betreiben, weil wir sonst keine mathematischen Formeln finden können, die die Vorgänge quantitativ beschreiben. Wir müssen einfach hoffen, dass sich die Welt in Formeln beschreiben lässt, weil wir nichts besseres haben, sie zu beschreiben. Und alles, was in Formeln beschreibbar ist, hat auch irgendwie Harmonie, Regelhaftigkeit. Glaub ich jedenfalls. Einfachst möglich ist die Welt aber nicht. Das können wir uns abschminken.
Dierk
Vielleicht ist dieses … Kriterium möchte ich es ungern nennen … diese Idee harmonischer Zusammenhänge auch nur ein Werkzeug, ähnlich einer Metapher in der Literatur. Immerhin sind die Grundlagen der Mathematik bei den alten Griechen von Pythagoras und seinen Eleven auf der Suche nach einer Beschreibung natürlicher Harmonie entstanden. Und zwar ganz wörtlich, es ging um Musik.
Der Mensch an sich ist ein Musterfinder – kein Sucher, wie oft gesagt wird. Wir erkennen überall Dinge, Abbilder, Muster jeder Art [ja, auch Verschwörungen!], völlig unabhängig davon, ob wirklich etwas da ist. Der Blick in den sommerlichen Himmel mit vorbeiziehenden Wolken, in denen wir Schafe, Schlösser, Gesichter und viel mehr erkennen, ist nicht nur ein Klischee, es ist ein Standardwitz von der Sendung mit der Maus bis zu Mike Myers.
Salopp gesagt: Wir wollen Schönheit sehen. Wir wollen uns Schönheit machen. Wissenschaft und Kunst sind immer sehr viel näher verwandt gewesen, als es viele heute erkennen, dabei hat sich überhaupt nichts daran geändert, dass beide die Wahrheit/Schönheit/Harmonie suchen.
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Guten Abend, lauter junge Leute, wie ich sehe, da hat man als alter Sack schon gewisse Hemmungen. Habe aber eben im Vorbeigehen – wollte schon mal früh nach Hause – gehört, mit welcher achtenswerten Ernsthaftigkeit es hier offensichtlich um die für uns alle wesentlichen Dinge geht. Ich hätte da mal an die Herren, pardon, sehe schon: zwei Damen sind ja such dabei, eine Frage, die mich schon seit langem bewegt:
Lassen Sie mich, bitte, halbwegs terminologisch gleich in medias res gehen, sind ja alles Fachleute hier, die werden mich schon verstehen: Das ganze Kopenhagener Modell und der oft vielgescholtene Teilchenzoo, alle diese Viecher versammeln sich in einem Felde herum mit der Größenordnung von 10^-10 bis 10^-12. Neulich habe ich in einer Graphik zu einem diesbezüglichen Podcast gesehen, es gibt da noch “etwas” im Bereich von 10^-18. Dann ist aber insoweit offensichtlich erst einmal Schluss im Mikrobereich, weil dann erst einmal einen ganze Weile lang gar nichts mehr kommt, und auf einmal (Stringtheorie und Plancksche Länge) sind wir am Ende der Skala des Allerkleinsten angekommen bei sage und schreibe 10^-35.
Meine Frage ist nun: Was ist das denn für ein “Loch” in der Physik, diese offensichtliche empirische Lücke zwischen 10^-18 und 10^-35? Kann mir das mal einer von ihnen erklären, bitte?
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Ohje, des Keplers neun Planeten … Schön aufgepasst. Aber zwei zusätzlich Umherschweifende sind in einer Kneipe ja kein Problem.