Joachim
Wir kennen das: Die Schule soll den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen. Alles darüber hinaus ist Zeitverschwendung, weil wir ja nicht wissen, ob die Kinder das je für’s leben brauchen werden. Schulzeit ist verlorene Zeit, wir brauchen die jungen Erwachsenen so jung wie möglich mit fertiger Schulausbildung. Und dann zur Spezialausbildung in die Uni, oder besser als Auszubildende in die Betriebe da schaffen sie früher die vom Staat so großzügig vorgestreckten Schulkosten wieder heran. Das ist die Grundlage aller Schulreformen heute.
Merkt denn niemand mehr, dass wir mit dieser Minimalpolitik den Sinn freien Schulbildung verraten? Die Schule ist nicht dazu da, dem Staat möglichst schnell effektive Steuerzahler zuzuführen. Sie dient den Kindern und hat sich an das Individuum zu richten. Angebote aus dem gesamten Bereich menschlichen Wissens zu geben, nicht weniger sollte der Zweck der Schulbildung sein. Die Gesellschaft fördert das nicht finanziell, weil sie spätere Gegenleistungen in Steuer- und Rentenzahlungen erwartet. Im Gegenteil: Die Angehörigen der Gesellschaft legen zusammen, um jedem jungen Menschen das beste zu bieten, was auch sie sich als Schüler gewünscht hätten.
Erbloggtes
Wenn Schule für die Leute, die sie organisieren, den Sinn hätte, freie Menschen zu bilden, würde sie zweifellos anders aussehen. Wozu die Schule aus deren Perspektive also tatsächlich da ist, das erfahren wir vielleicht, wenn wir uns das tatsächliche Funktionieren der Schule (und der Universität) mal genauer anschauen. Martin Lindner hat das mal gedankenbruchstückhaft gemacht. Kritische Bildungsforscher dürften in umfänglichen empirischen und theoretischen Studien zu ähnlichen Ergebnissen kommen: Die sogenannten Inhalte des Schulunterrichts sind egal. Gelernt wird vor allem nonverbal und unbewusst: Du bist Mündel des Staates. Du hältst Dich an die Regeln. Was nicht passt, wird passend gemacht. Tschuldigung, ich muss mich grad mal in den Rinnstein übergeben. Gut, dass wir schon vor der Tür sind.
jhermes
Lass ruhig alles raus, viel schlimmer kanns ja nicht mehr kommen. Klar arbeiten an Schulen und Hochschulen ausschließlich Büttel der Regierung, deren einzige Aufgabe es ist, Ersatz für die verschlissenen Rädchen des Staatsgetriebes zurechtzuschleifen. Ich bin ja selbst einer und muss dir wohl auf ganzer Linie Recht geben, habe ich doch längst aufgegeben, meine Gestaltungsspielräume zu nutzen und Inhalte, die ich für wichtig halte, zu vermitteln. Einfach so, denn was soll man auch tun gegen eine so übermächtige Verschwörung? Oh, pass auf, deine Schuhe…
Dierk
Wenn wir den überbordenen moralischen Impetus mal raus nehmen, bleibt das Bildungssystem – wie so ziemlich alle Strukturen, die durch das Zusammenleben von Menschen bedingt sind – ein hyperkomplexes Gebilde mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen auf diversen Ebenen. Natürlich möchte die Gemeinschaft einen Nutzen durch möglichst gut ausgebildete Gemeinschaftsteilnehmer ziehen, sonst würde sie überhaupt nicht in Schule und Hochschule investieren. Die Individuen haben ein Interesse daran, möglichst gut ausgebildet zu sein, weil sie damit bessere Chancen haben, in der Gemeinschaft anerkannt zu sein. Dazu gehört auch das Wachsen des eigenen Persönlichkeitsprofils.
Das widerspricht sich doch alles überhaupt nicht. Da wir außerdem nicht in die Zukunft sehen können, kann jene böse, böse Entität ‘Staat’ auch gar nicht wirklich sagen, welche Spezifika für die nächste Generation wichtig sind. Klar, die Grundfertigkeiten, um überhaupt lernen zu können. Und bei Annahme einer halbwegs uniformen Welt, wie Newton oder Mill sie verstehen, macht es Sinn weitere Fähigkeiten, Phänomene und Tatbestände zu lehren, die sich in der Vergangenheit – speziell der nächstliegenden Generation – bewährt haben. Garniert mit educated guesses über demnächst wichtige Entwicklungen [speziell im technischen Bereich].
Was Verschwörungen angeht halte ich es mit Hanlon’s Razor: Never attribute to malice that which is adequately explained by stupidity.
Erbloggtes
Ja, prügelt ruhig auf mich ein. Das habt Ihr wohl in der Schule gelernt, wa? Nur weil ich “Leute, die sie organisieren” erwähne, könnt Ihr doch nicht einfach ein strukturfunktionalistisches Argument als Verschwörungstheorie abtun! Was “nonverbal und unbewusst” gelernt wird, ist ja nicht das, was jene Leute planen, oder was die “Büttel der Regierung” durchführen (möchten). Aus Hanlon’s Razor ergibt sich auch, dass das Abweichen von expliziten Zielen des Bildungssystems keine Absicht erfordert, sondern auch aus Unfähigkeit resultieren kann. Und ich sage Euch: Das Bildungssystem ist unfähig, die Ziele zu erreichen, die in Sonntagsreden immer gern beschworen werden. Es erreicht ganz andere Ziele.
Es erreicht zum Beispiel, dass gut ausgebildete, kritische Leute Sätze wie die folgenden glauben: “Die Individuen haben ein Interesse daran, möglichst gut ausgebildet zu sein, weil sie damit bessere Chancen haben, in der Gemeinschaft anerkannt zu sein. Dazu gehört auch das Wachsen des eigenen Persönlichkeitsprofils.” Dabei ist das Leistungs- und Profilbildungsideologie in Reinform. Meine Kinder sollen lieber nichts in der Schule lernen. Dann werden sie mal Wirt, in der Wirtschaft anerkannt, und bekommen ein prägnantes Profil.
Joachim
Freunde, ihr seid auf dem Holzweg! Außer Erbloggtes natürlich. Ich rede doch von keiner Verschwörung. Schon gar nicht von einer der Lehrenden. Die machen ihren Job halt so gut es die Sparpolitik zulässt. Die sorgt dafür, dass immer weniger Zeit für Vorbereitung zur Verfügung steht, die Klassen immer größer werden und sich pädagogisch ausgebildetes Personal immer mehr um Verwaltungsaufgaben kümmern muss, die früher Fachabteilungen in der Schulbehörde übernommen haben.
Nein, es ist keine Bosheit im Spiel. Es ist noch nicht einmal Dummheit. Es ist der Zwang, dass jede Reform zu einem billigeren System führen muss. Es soll besser sein, darf aber nicht mehr kosten. Also werden die Lehrpläne gestrafft, ein Schuljahr wird eingespart, Studierende werden durch Studiengebühren und Zwischenprüfungen gezwungen, in der Regelstudienzeit durchzustudieren. Nach links und rechts gucken, also zusätzliche Seminare in anderen Fächern besuchen, ist nur denen möglich, die sich ein längeres Studium leisten können. Den Schülern, deren Eltern private Kurse neben der Schule finanzieren können.
Und die Begründung? Damit die jungen Menschen jünger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen? Einem Arbeitsmarkt, der ohnehin gesättigt ist? Auf dem sowieso nicht alle gut ausgebildeten jungen Leute einen passenden Job finden?
Gut situierte Eltern haben kein eigenes Interesse an Bildung für alle. In ihrem Interesse ist es, dass ihre Kinder besser ausgebildet werden als die anderen, damit sie auf dem Arbeitsmarkt die besseren Chancen haben. Das ist ihnen nicht vorzuwerfen. Ich will auch das beste für meine Nichten und Neffen. Aber staatliche Schulen und Universitäten sollten dem ausgleichend entgegenstehen und gute Chancen für alle bieten. Und das geht nicht, wenn sie gleichzeitig sparen müssen. Wir müssen im Bildungssystem wieder Geld in die Hand nehmen.
Pingback: Hausaufgaben - Homeschooling der kleinen Bildungspolitik | KneipenLog
So als “Büttel der Regierung” muss ich doch mal Widerworte einwerfen. Wir arbeiten sehr wohl am eigenständig denkenden Menschen, und wahrhaftig nicht auf die berufliche Laufbahn hin orientiert. Diese Denke ist zwar stark eingerissen, aber sie bildet nicht den Kern des Unterrichts, sondern eher seine institutionalisierten Verhunzungen.
Wir können gerne das Curriculum im Detail durchgehen, aber das ist doch eher langweilig, wenn wir uns nichtmal über den Zweck der Schule einig sind. Die Menschen schicken ihre Kinder nämlich nicht zur Schule, weil sie Bildung als Selbstzweck sehen oder ihre Kinder vom Staat indoktrinieren lassen wollen. Sie versprechen sich davon, dass die jungen Erwachsenen mit Abschluss der Schule für das Leben vorbereitet sind. Vor allem für das Berufsleben. Und da setzt meine Kritik an.
Erstens sehe ich hier einen Interessenkonflikt: Individuelle Eltern wollen für ihr Kind bessere Chancen im vergleich zu den anderen. Die Gesellschaft als ganzes kann das aber nicht wollen. Sie muss Chancengleichheit anstreben. Mein ideal wäre, dass der Erfolg in der Schule nur von Talenten, nicht vom Elternhaus abhängt. Das sehen Eltern, die die Mittel haben, ihren Kindern Sonderförderung zukommen zu lassen, oft anders.
Zweitens glaube ich nicht, dass Minimalbildung “Lesen, Schreiben, Rechnen” und meinetwegen noch “kritisches Denken” ausreichen. Eine solide Breitenbildung wird jedem Menschen gut tun, denn erst sie ermöglicht es, eine Wahl zu treffen, wohin es auf dem Lebensweg weitergehen soll. Wir sind dem feudalen System entkommen, in dem der Müllersohn Müller wurde. Das halte ich für eine erhaltenswerte Sache. Deshalb sollten wir nicht im Zuge der Sparpolitik zulassen, dass alle Fächer außer Mathe, Deutsch und erste Fremdsprache wegrationalisiert werden. Auch Schüler, die musikalisch begabt sind oder sich zur Theologie hingezogen fühlen, sollten die Möglichkeit haben, in diese Themengebiete hineinzustolpern.
Wenn ich irgendwas nicht möchte, sind es Eltern, die ihren Blagen zu Hause in aller Ruhe und ohne Gegengewicht jedweden religiösen Unsinn beibringen. Natürlich habe ich das große Glück, Religionsunterricht in Hamburg erhalten zu haben, wo er noch nie konfessionell war, sondern immer vergleichend.
Auch wenn ich Sportunterricht den größten Teil meiner Schulzeit verabscheut habe, halte ich auch ihn für sehr wichtig. In der Schule wird viel zu viel gesessen. Außerdem fördert er womöglich von allen Fächern am stärksten Gruppenzusammenhalt und Sicherheit.
Diese Diskussion ist dann doch zu schnell in die Extreme “Bildung als Selbstzweck” und “Der Staat indokriniert unsere Kinder” abgedriftet. Die Wahrheit dürfte aber mal wieder in der Mitte liegen. Da ich Historiker bin, nehm ich mal den Geschichtsunterricht als Beispiel:
Man kann sich theoretisch natürlich alles selbst anlesen, was man im Geschichtsunterricht lernt. Die Bücher gibt es in jeder Buchhandlung, ansonsten hat Amazon sie. Problematisch ist dabei aber, dass es eben auch einen Haufen schlechter Bücher gibt und dass (leider) viele Menschen sich nicht für die Geschichte interessieren und niemals selbst ein Buch in die Hand nehmen würden. Dabei halte ich etwa grobe Kenntnisse über den Nationalsozialismus für absolut wichtig. Das braucht man, um die Welt zu verstehen.
Jetzt kann Geschichtsunterricht in den Schulen aber durchaus verschieden ausfallen. Je nach Lehrer und je nach Lehrplan kann entweder kritisches Denken vermittelt werden oder eine glorifizierte, falsche Version der Vergangenheit. Es ist nicht schwer, sich einen Geschichtsunterricht in einem autoritären Regime vorzustellen, der dieses Regime legitimiert und einen Geschichtsunterricht, der den Kindern ein kritisches Hinterfragen von Dokumenten, Texten, Quellen, Interpretationen beibringt.
Im Indokrinationsfall ist die Gesellschaft besser dran, wenn nur Lesen, Schreiben, Rechnen vermittelt wird, von kritischem Denken wird sie profitieren. Daher sollte der Blick stärker auf die Details des Vermittelten gerichtet werden.
(Das hindert uns übrigens auch nicht, mal zu hinterfragen, ob manche Fächer wirklich in der Schule gut aufgehoben sind. Gerade Religion und Sport sind Fächer, die eher Privatsache sein sollten)
Ich habe ziemlich klar geschrieben, dass ich keines deiner beiden Extreme vertrete.
Ich denke, da fehlt ein “nicht” zwischen “sie profitieren” im vorletzten Absatz. Was meinst Du mit den “Details des Vermittelten”? Dass es an deutschen Schulen Standard ist, dass im Geschichtsunterricht kritisches Denken gelehrt wird? Das ist noch nichtmal im Geschichtsstudium Standard. Standard ist vielmehr, “grobe Kenntnisse über den Nationalsozialismus”, also Namen, Daten, Fakten mehr oder weniger auswendig zu lernen.
Die Alternative ist ja nicht “kritisches Denken” oder “eine glorifizierte, falsche Version der Vergangenheit”. Die Alternative ist “kritisches Denken” oder die Version der Vergangenheit, die der Lehrer/das Lehrbuch/das Kultusministerium für wahr hält. Die wichtigen “Kenntnisse”, von denen Du sprichst, sind ja Wissensinhalte, und nicht Fähigkeiten, wie beispielsweise kritisches Hinterfragen.
Versteht mich nicht falsch. Ich meine gar nicht, dass das alles überhaupt unmöglich ist in der Schule. Aber normal ist das nicht. Und wenn Ihr den status quo damit verteidigt, was der alles Wichtiges leistet, dann halte ich das für eine Position, die der Selbstberuhigung dient: Wie sollte man auch sonst seine Kinder noch guten Gewissens in die Schule schicken, oder gar selbst hingehen und anderer Leute Kinder unterrichten. Diese Art Gewissensberuhigung empfinde ich aber als falsch. Man sollte sich lieber klar machen, was man den Kindern (auch den eigenen) antut, dass es aber derzeit keine realistischen Alternativen gibt. Und dann seinen Kummer in Alkohol ertränken.
Ich geh wieder rein und bestell mir einen doppelten Scotch. Prost!
Da fehlt kein “nicht”, der Satz ist genauso richtig. Ansonsten muss ich an dieser Stelle sagen, dass mir ernsthaft die Erfahrung mit aktuellem Geschichtsunterricht fehlt. Meine Schulzeit ist jetzt schon eine ganze Weile her und in der Zwischenzeit hat sich gerade im Schulbereich mehr getan, als man denkt.