Dierk
Immer wieder kommt er hoch. Der Nutzwert. Schönheit spielt eine untergeordnete Rolle. Das geht soweit, dass zukünftigen Angehörigen der schreibenden Zunft Adjektive abgewöhnt werden. Sie sollen Schnörkel vermeiden, alles Überflüssige. Gut, was genau denn überflüssig ist, wird gerne offen gelassen. Unser Leben wird bestimmt von Notwendigkeiten. Aber Kunst, Literatur, Architektur?
Selbstverständlich gibt es Gebrauchskunst – ich packe der Einfachheit halber mal alle genannten sowie weitere künstlerische Gattungen unter diesen Begriff. Es gibt Industriedesign, dessen Produkte für den Anwender einfach zu bedienen sein sollen. Es gibt Tagesjournalismus, der Ereignisse und Prozesse dem Leser erklären soll und einordnen soll. Zweckbauten, in denen Menschen arbeiten sollen. Tanzmusik, die ihren Sinn im Namen trägt. Das alles vergeht. Nicht in Jahrhunderten, nicht in Jahrtausenden, sondern oft innerhalb eines Jahrzehnts oder noch schneller.
In der Architektur soll sich die Form den Notwendigkeiten unterordnen [nach Louis Sullivan, Adolf Loos und anderen Modernisten]. Alles, was nichts nützt, ist überflüssige Verzierung, auf die verzichtet werden muss. Nun ist Kultur aber genau jenes Mehr, das über das Notwendige hinaus geht. Kultur ist die Summe dessen, was wir uns leisten, obwohl sie keinen Nutzen haben.
Gebäude, die reinen Nutzwert haben, sind Gebrauchsware, Massenartikel, die jederzeit ohne Verlust verschwinden. Das gilt auch für Bücher [z.B. 1000 tolle Steuertricks], Bilder und so fort. Doch Kunstwerke zeigen ihre Seele in eben jenen Macken und Verzierungen, auf die wir nach dem Diktum Form follows function verzichten möchten. Kultur ist schlussendlich, was übrig bleibt, ziehen wir das Notwendige ab.
jhermes
Ich bin ein wenig argwöhnisch, ob du hier nicht eine Falle aufgestellt hast, in die ich jetzt gedankenlos hineintappe. Einerseits ist das, was du als Kultur bezeichnest, bei mir eher mit dem Begriff Kunst belegt (was ist bei dir der Unterschied zwischen Kunst und Kultur – eine andere Art der Summenbildung?). Andererseits – und den Widerspruch forderst du ja mit Sicherheit heraus – empfinde ich deine negative Definition von Kultur über das Kriterium der Nicht-Nützlichkeit weder als hinreichend noch als notwendig.
Hinreichend ist das Kriterium deswegen nicht, weil wir uns allerlei unnützen (bzw. auf keinen Fall notwendigen) Blödsinn leisten, den ich nun wirklich nicht unter Kultur fassen würde, von elektrischen Brotschneidemaschinen über nur halbgebaute Autobahnkreuze bis hin zu Stuttgart 21 oder Bielefeld (sorry).
Notwendig ist das Kriterium der Nutzlosigkeit nicht, weil – um einen Allgemeinplatz zu bedienen – der Mensch ja nicht vom Brot allein lebt. Kunstwerke können uns dabei helfen, uns selbst und die Welt um uns herum zu verstehen. Und sie können uns Vergnügen bereiten, ohne das wir möglicherweise unser Leben nicht bewältigen würden. Sie sind nützlich, weil wir nicht in einem Ameisenstaat leben.
Dierk
Wenn ich von Notwendigkeiten schreibe, meine ich hier jene Dinge, die wir brauchen, um zu [über]leben. Je nach Klima ein mehr oder weniger festes Dach über dem Kopf und ein paar Wände. Nicht notwendig sind demnach barocke Verzierungen, klassizistische Kuppeln und so fort. Ich könnte die aufgeworfene Frage von oben auch in Feuilletonmanier stellen: Was bleibt von uns? Was finden Archäologen in 2000 Jahren von uns, an dem sie eine eigene Kultur erkennen?
Schau dir den Totenkult verschiedener Kulturen an – spätestens jetzt sollte klar sein, dass ich ‘Kultur’ selbstverständlich nicht einenge auf Gemälde im Museum. Wenn es um Seuchenschutz geht, reicht es, Tote zu verbrennen oder sie einige Meter tief in Erde zu legen, Marker drauf, damit niemand vor der Verrottung des Körpers dort gräbt. Hätten Menschen genau dies immer so praktiziert, also die reine Notwendigkeit zum Maßstab gemacht, wüssten wir heute kaum etwas über vergangene Kulturen.
Das gilt auch für Literatur, Theater, Kunst, Musik. Neben der Gebrauchsware schaffen Menschen Werke, die bewusst für die Ewigkeit geschaffen sind. Sie sind das, was übrig bleibt.
Lars
Ich würde Kultur genau entgegengesetzt definieren. Die ersten bekannten “Kultur”-Güter der Menschheit waren nützliche Dinge: Speere, Körbe, Hammersteine – all jene Werkzeuge, die sich in den Händen der Menschen bewährten und deswegen horizontal und vertikal weitergegeben wurden. Gerade dadurch erkennen wir sie ja als “Kultur” und nicht als isolierte Bastelarbeiten.
Technik ist im Zentrum aller menschlicher Kultur – das was Dierk hier als “Kultur” bezeichnet, der Schnörkel, geht aus der Kultur der Gebrauchsgegenstände erst hervor. Das “was übrig bleibt”, kennzeichnet ja gerade den übergeordneten Wert dieser Dinge: Unsere Werkzeuge sind so zentral für das Mensch-Sein, dass die Menschheit sie von Anfang an verziert, geformt und individualisiert – sichtbar aufgewertet – hat. Diese Verzierungen sind nicht die Kultur selbst, sondern ein Symptom von Kultur.
Natürlich ist auch unsere “rein funktionale” Technik ein spezifisches ästhetisches Statement, ganz abgesehen davon, dass die historisch gewachsenen Formen unserer Geräte und nicht zuletzt die von uns benutzten Geräte selbst Ausdruck von Kultur sind. Damit hat sich auch die pseudoplatonische Vorstellung erledigt, man könne die “Kultur” von den Werkzeugen entfernen und hätte dann die rein-nützliche, objektive “Idee” dieses Werkzeuges in der Hand. Denn die “Nützlichkeit” dieses Werkzeuges, also die Funktion, die es erfüllt, ist selbst Kultur.
christorolia
Ein Kultur-Objekt oder -Gebilde besitzt meiner Meinung nach einen lebensweltlich bedeutsamen Kulturwert und einen davon unabhängigen Sachwert. Ein Kultur-Objekt wirkt in beiden Richtungen. Unter Bedingungen der einseitigen Betonung des Sachwerts bis hin zum völligen Verschwinden jeden Kulturwerts wird dem Mensch unbehaglich, deswegen wohl auch dieser Artikel. Eine Kulturlandschaft beispielsweise ohne jede Ästhetik wirkt auf uns abstoßend. Eine Gesellschaft ohne Objekte mit Kulturwert kann es nicht geben. In einem solchen Moment hätten wir m.E. den Status des Menschseins verloren.
Erbloggtes
Nein, Dierk, Kultur ist nicht das, was über das Notwendige hinaus geht. So lautet lediglich die klassische deutsche Kultur-Definition – die aber auf einem elitären Holzweg liegt. Ich bin da eher bei Lars, auch wenn ich Technik nicht im Zentrum aller Kultur sehe. Denn Immaterielles (Sprache, Recht, Religion) ist Kultur, aber völlig technikfern. Kultur ist – das finde ich die sinnvollste Definition – das Menschengemachte im Gegensatz zur Natur. (Der Naturbegriff ist dabei etwas irritierend, weil niemand mehr raus in die freie Natur fahren kann – denn die ist immer schon menschengemacht.) Dass auch rein funktionale – schnörkellose – Objekte Kultur sind, geradezu sein müssen, zeigt sich doch daran, dass auch sie mit Bedeutung aufgeladen sind. Der Erschaffer hat sie aus Gründen so – funktional, karg, fokussiert – eingerichtet. (Für Natur gilt das nur, wenn man einen anthropomorphen Gott annimmt, der die Natur mit einem “Intelligent Design” ausgestattet hat.)
Warum meine ich nun, dass die Vorstellung von Kultur als dem, was über das Notwendige hinaus geht, “ur”deutsch-bürgerlich ist? Das deutsche Bürgertum zog sich – nach dem Scheitern politischer Emanzipation seit der Französischen Revolution – auf seine “große Kultur” zurück und stellte sich diesen Sektor als Reich der Freiheit vor, gegenüber dem Reich der Notwendigkeit, das quasi alles Übrige umfasste, wo das Bürgertum sich einflusslos fühlte, zuvörderst die Politik. In gewisser Weise ist die Vorstellung von der “Alternativlosigkeit” gegenwärtiger Politik immer noch eine Nachwirkung dieser überkommenen Kultur, die Freiheit nur im Nicht-Notwendigen, Weltfremd-Künstlerischen verortet.
Dierk
Falls diese Idee auch in der deutschen Bürgerlichkeit vorkommt, war mir das noch nicht bekannt. Aus dem simplen Grund, dass ich kaum deutsche Theoretiker [oder Praktiker] lese. Ich wurde zu diesem Gedanken von britischen Philosophen, Kulturtheoretikern und Kunstkritikern inspiriert.
Wir müssen jetzt doch zwei Kulturbegriffe auseinanderhalten: Kultur als Summe aller Aspekte menschlichen Lebens, die über Genetisches hinausgehen – das wäre sehr kurz gefasst der soziologisch-anthropologische Überbegriff – und Kultur als die Ausprägungen dieser Aspekte, die über eine Generation hinaus Bestand haben [auch sehr kurz gefasst]. Aus der ersten Betrachtungsweise bezeichnen wir synchron wie diachron Volksgruppen, Lars greift das auf. Ich nenne das für gleich mal KulturA.
Die zweite Definition umfasst dann jene Artefakte, die ich oben schon nutzte und ohne Probleme auf nicht-klassisch-bürgerliche Institutionen wie Stadtteilkultur und Straßentheater ausweiten könnte. Und es ist hier, in diesem Bereich, dass Menschen fragen ‘Muss das denn sein, wer braucht das?’ Nicht nur von Politikern, die diese Frage in mehr Wörter kleiden und gegen Anderes abwägen. Dies wird KulturB.
Folgen wir nun jenen, die meinen, das Nicht-Notwendige sei sekundär und man solle drauf verzichten, wenn das Geld knapp ist [in den letzten 47 Jahren: immer], schaffen wir aus meiner Sicht ausgerechnet das ab, was uns als KulturA langfristig definieren wird, nämlich KulturB. Was übrig bleibt ist eine im schlechtesten Sinne utilitaristische Gesellschaft, die Schönheit höchstens noch individuell gutheißt.
Erbloggtes
Faszinierend, wie mein Herkunftsargument (fast völlig) ins Leere läuft. Da setze ich mal neu an: Funktionale KulturA kann aus zwei verschiedenen Positionen vertreten werden: Erstens aus einer demokratischen Richtung, die Schnörkel als elitär ablehnt und findet, dass zuerst alle mit dem Notwendigsten versorgt werden sollten, bevor man funktionslos-”schönen” Zierrat an die Fassade klebt. Ich denke da an Bauhaus-Architektur und setze schön in Anführungszeichen, weil die Bauhaus-Schlichtheit durchaus schön ist.
Zweitens gibt es eine elitäre bürgerliche Perspektive, die ‘Muss das denn sein, wer braucht das?’ fragt, weil das staatliche Geld (der geringen Steuern wegen) knapp ist und diese Leute das lieber für Straßenbau und Polizei ausgeben wollen als für Straßentheater und alternative Kulturhäuser. Zu dieser Ecke gehören dann auch jene “kunstsinnigen” Leute, die Deutungshoheit über KulturB (und wegen des Gleichklangs auch KulturA) für sich beanspruchen, weil sie privat die mäzenatischen Mittel zur Verfügung haben, um KulturB nach ihrem Gusto zu finanzieren.
Beide Positionen haben eine ganz bestimmte Funktion von KulturB im Blick: Die gesellschaftliche Distinktion zwischen denen, die sich KulturB (“das Überflüssige”) leisten können, und der breiten Masse. Wenn die gesellschaftliche Schere auseinandergeht, ist das besonders virulent. Denn KulturB gilt immer noch als etwas, was eine legitime Distinktion zwischen sozialen Schichten herstellt.
Lars
OK, der Definition von Kultur als Menschengemachtes über die Technik hinaus würde ich mich anschließen.
Ich würde die Idee von Erbloggtes sogar noch schärfer formulieren: Die ganze Vorstellung, dass KulturB abgesetzt von (lies: übergeordnet zu) KulturA existiert, hat primär den Sinn, soziale Unterscheidungen zu rechtfertigen. Der ganze “Hochkultur”-Kram ist, pauschal gesagt, sauteures und/oder anderweitig zugangsbeschränktes Zeug – und damit Statussymbol. Mit Qualität hat das alles erstmal kaum etwas zu tun, lediglich mit der Möglichkeit, sich dadurch von der Masse abzusetzen.
Deswegen wehren sich ja auch Eliten und Feuilletonisten so sehr gegen die Vorstellung, dass Texte im Internet genauso hochwertig sein können wie Texte auf Papier – im Netz gibt es halt keine Hürden, die soziale Abgrenzung ermöglichen. Und damit geht auch die primäre Funktion der Literatur verloren: Die Bildung eines Kanons, der über die Zugehörigkeit einer bestimmten Schicht entscheidet.
Ein sehr schöner Text von Dierk. Unterschreibe ich. Und endlich jemand, der den Adjektiven Respekt zollt. Ich weiß ja nicht ob Links hier erwünscht sind. Ich versuche es einfach mal. Notfalls löschen…
Mein Beitrag dazu Die unversuchte Errettung grünophyllter Adjektive
Ein hübsches Blog habt ihr hier… (gebookmarked)
Dass der ganze Hochkultur-Kram zur sozialen Abgrenzung dient, ist doch überholt. Gerade das Netz hat doch mitgeholfen, diese von den Hochkultur-Jüngern gezogenen Grenzen aufzubrechen. Zudem setzt die Kulturpolitik viel daran, Museen, Theater und Bibliotheken durch Subventionen für alle zugänglich zu machen. Alles nur eine Frage des Wollens, und das wird durch Kulturerziehung erreicht. Umso bedauerlicher, dass Fächer wie Kunst und Musik in den Schulen zunehmend nicht mehr oder nur rudimentär erteilt werden. Aber das ist eine andere Baustelle.
Kultur wie ich sie verstehe ist dem Menschen angeboren. Warum sonst wurden die Keramiktöpfe und Werkzeuge der Steinzeit verziert. Wer einmal die Höhlen von Lascaux besucht hat, sieht, dass der Kunstsinn uralt ist. Nie in der Menschheitsgeschichte hat meines Wissens die Funktion ohne die Form und die Gedanken darüber dagestanden. Und wenn der monetäre Charakter der Kultur auch noch so oft betont wird, sie wird nicht auszurotten sein. Ob nun als KulturA oder KulturB. Und deshalb ist mir um die Kultur auch nicht bange, egal, wie sie definiert wird.
Soso, alles prima mit Kunst und Kultur?
Die Kulturpolitik setzt viel daran, Museen, Theater und Bibliotheken durch Subventionen aus dem Steueraufkommen zu finanzieren, damit einerseits die gutbürgerlichen Kreise nicht 200 Euro oder mehr pro Theaterkarte bezahlen müssen, und damit andererseits eine bildungsbürgerliche Schicht, deren finanzielle Zugehörigkeit zum Bürgertum längst prekär geworden ist, sich einigermaßen halten kann. Wenn diese verarmenden Bildungsbürger nämlich nicht mehr die “Hochkultur” favorisieren würden, fehlte den Finanziers die ideologische Grundlage dafür, Mäzenatentum als Wohltätigkeit darzustellen (und ihre “kulturelle Bildung” als Symbol ihrer Herrschaftslegitimation).
Wer hat denn noch Kulturerziehung, wenn Fächer wie Kunst und Musik an staatlichen Schulen als nutzlos und überflüssig wegrationalisiert werden? Wieviel gibt’s denn noch? 2 Stunden pro Woche, aber abwechselnd Kunst oder Musik? Kulturerziehung (Bourdieu würde sagen: kulturelles Kapital) erhalten natürlich Kinder, die private Lehranstalten besuchen, Klavierunterricht erhalten oder [hier bitte einsetzen, wie man Kinder an bildende Kunst heranführt - da weiß ich noch nicht mal, wie das gehen soll].
Helmut meint, es reiche aus, sich einen passablen Druck von Pougheon kaufen zu können. Das ist doch eine Einstellung für prekäre Bildungsschichten. Bevor man überhaupt den Wunsch verspüren kann, sich ein Pougheon-Poster aufzuhängen, muss man auf dem Bild überhaupt etwas erkennen können.
Verzeiht die Publikumsbeschimpfung, oder besser noch, versteht sie als avantgardistische Performancekunst! Soviel kulturelle Bildung wird man bei unserer großartigen Kulturpolitik wohl noch erwarten dürfen, dass Ihr genießen könnt, wenn Ihr angeschissen werdet.
Ich bin ja gern mal Mitspieler in einer Performance, so viel Ehre ist mir bisher noch nie zuteil geworden. Nur noch ein paar Worte zur Kulturerziehung, bis ich wieder meiner Arbeit nachgehen und das Geld für den nächsten Opernbesuch verdienen muss: Kulturerziehung erhalten Kinder nicht nur in privaten Lehranstalten und Musikschulen, sondern auch in erster Linie durch ihre Eltern. Nur in Familien, in denen Kultur genossen und gepflegt wird, können Kinder Kultur kennenlernen. Diesmal meine ich damit Kultur im Sinne von Malerei, Musik, Design, Stilbildung, Literatur oder Lyrik. Eltern, die wie selbstverständlich ins Museum oder ins Konzert gehen, sind doch die besten Vorbilder und leisten mehr, als es jeder Musikunterricht vermittelt kann. Nämlich die Freude an kulturellen Leistungen, das Genießen.
“Wer hat denn noch Kulturerziehung, wenn Fächer wie Kunst und Musik an staatlichen Schulen als nutzlos und überflüssig wegrationalisiert werden? Wieviel gibt’s denn noch? 2 Stunden pro Woche, aber abwechselnd Kunst oder Musik?”
Einspruch, euer Ehren. Meine Kinder haben mehr Kunst- und Musikunterricht als ich seinerzeit. Und zwar beide Fächer, jeweils 2 Schulstunden pro Woche. Beide können bereits Noten lesen. Das habe ich seinerzeit nie gelernt. Darüber hinaus wird zumindest in NRW noch Instrumentalunterricht angeboten, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Musikschulen.
“Bevor man überhaupt den Wunsch verspüren kann, sich ein Pougheon-Poster aufzuhängen, muss man auf dem Bild überhaupt etwas erkennen können.”
2. Einspruch:
Nein, es ist lediglich notwendig, überhaupt Zugang zu dem Bild zu haben. Da reicht es – um Helmut Wichts Beispiel zu erweitern – zur Not sogar, das Poster zufällig in einem Schaufenster zu entdecken, ohne es zu kaufen, ohne je das Original zu sehen oder auch nur den Namen des Künstlers zu kennen. Ich kann Kandinskys oder Monets Kunstwerke durchaus toll finden und innerlich davon profitieren, ohne auch nur das Geringste über sie Künstler und ihre (vermeintliche oder tatsächliche) Intention dahinter zu wissen. Es reicht doch die Erkenntnis beim Betrachten: “Hey, so kann man die Welt also auch sehen/gestalten!”
Teilhabe, Freude und Mitwirkung an Kultur ist nicht zwangsläufig an Wissen gebunden.
Das klingt aber alles, als sei Kultur von Kunst abhängig. Ist sie in meinen Augen nicht. Auch ein aufs Wesentliche reduzierter Gegenstand gehört m.E. zur Kultur. Ein einfaches, unverziertes Werkzeug ebenso wie die Autofabrik, ein Zahlensystem, Patente, Straßenmalerei, Goethes Werke oder der Kölner Dom.
” Es reicht doch die Erkenntnis beim Betrachten: “Hey, so kann man die Welt also auch sehen/gestalten!””
So ungefähr soll Kandiski übrigens zur abstrakten Malerei gekommen sein: Er hat ein impressionistisches Gemälde aus den Augenwinkel gesehen ohne Objekt oder Intension zu kennen, und dachte sich: “Hey, so kann man die Welt also auch sehen/gestalten!”
Kann es sein, dass der Kanon der “Hochkultur”, den man heutzutage unbedingt kennen muss, sich schlicht und einfach verschoben hat und dass die Theater, Orchester & Co abgehängt werden? Mittlerweile muss man keine Goethe-Zitate mehr kennen, steht aber gewaltig im Regen, wenn man die ständigen Simpsons-Anspielungen nicht versteht. Wer noch nie Mahler gehört hat, kommt damit klar, wer die Beatles nicht kennt, wird schräg angeschaut. In Literatur und der bildenden Kunst gilt ähnliches.
Das Thema Zugänglichkeit von “Hochkultur” sehe ich jetzt gar nicht mal als so kritisch – wenn ich Lust habe, kann ich mir auf Spotify den kompletten Kanon klassischer Musik kostenlos anhören (ich bevorzuge aber gerade doch lieber die grandiosen El Ten Eleven), ich kann mir die gesamten Literaturklassiker bei Projekt Gutenberg herunterladen und auf dem eBook-Reader lesen und ja, ich könnte auch ins Theater gehen. Das hat mich trotz diverser Versuche nie überzeugt, ich gehe lieber ins Kino.
Ich formuliere es doch etwas ketzerisch: Brauchen wir wirklich einen staatlich finanzierten oder gar staatlich vorgeschriebenen Kulturunterricht? Warum soll nicht jeder Mensch sich seinen eigenen Kulturkanon selbst zusammensuchen? Würde es nicht ausreichen, wenn man etwa Kindern die Gelegenheit dazu gibt, Kultur kennenzulernen? Wenn sie dann Klavier und Bach spielen wollen, gut. Wenn sie Gitarre und Sid Vicious spielen wollen, wo ist der Unterschied?
Hmm, könnte man dasselbe nicht über jede Art von Unterricht sagen?
Ich formuliere mal ketzerisch: Brauchen wir wirklich einen staatlich finanzierten oder gar staatlich vorgeschriebenen Mathematikunterricht? Warum soll nicht jeder Mensch sich seinen eigenen Bildungskanon selbst zusammensuchen? Würde es nicht ausreichen, wenn man Kindern die Gelegenheit gibt, Lesen, Schreiben und Rechnen kennenzulernen?
Im Prinzip brauchst du “nur” die Basistechnologien – Lesen, Schreiben, Rechnen, kritisches Denken und dann die Gelegenheit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Im Prinzip erlauben dir Schulen das grob schon, wenn du etwa zwischen künstlerischen oder naturwissenschaftlichen Zweigen, verschiedenen Sprachen oder Fächern wählen kannst. Ich bin selbst etwas gespalten, was das betrifft: Generell ist eine allumfassende Allgemeinbildung sinnvoll und wünschenswert, ich halte es aber auch für kontraproduktiv, Kinder zu etwas zu zwingen, an dem sie keinen Spaß haben. Der Sportunterricht hat wohl mehr Menschen vom Sport abgehalten als er für die allgemeine Fitness getan hat. Ähnliches dürfte auch für das Bücherlesen gelten – wer in der Schule ein ödes Buch nach dem anderen lesen musste, greift als Erwachsener nur zögerlich zur Literatur.
Sorry: Pougheon heisst er. Hier ist das Bild:
http://tinyurl.com/czur5h6
Darf ich hier auch was meinen?
Ich bin via Twitter hier her geraten.
An den Lars/Zitat:
“Der ganze “Hochkultur”-Kram ist, pauschal gesagt, sauteures und/oder anderweitig zugangsbeschränktes Zeug – und damit Statussymbol. Mit Qualität hat das alles erstmal kaum etwas zu tun, lediglich mit der Möglichkeit, sich dadurch von der Masse abzusetzen.”
Das ist nun aber SO pauschal, dass es unwahr ist. Ich muss nicht reich sein, um an Hochkultur teilzuhaben. Denn Teilhabe muss ja nicht Besitz sein – die erwünschte Disktinktion kann ja auch schlicht darin liegen, sich in diesen Dingen auszukennen. Mir reicht ein passabler Druck von Pugheon (ein Maler, den ich erst gestern in Paris entdeckt habe, Art deco, es lohn sich, seinen Namen und “Le Serpent” zu googeln) an der Wand. Das distinguiert mich sozial schon genug (wiewohl meine Zimmernachbarin meint, dass es mich disqualifiziert).
Und zum zweiten Teil – die Bildung eines “Kanons”, die “Schichtzugehörigkeit”, die “Initiation”, die “Zirkelbildung” – das gibt’s doch im Netz ganz genauso. Paradebeispiel wäre der Zirkel um diesen Neodandy Don Alphonso.