Erbloggtes
Voll normal. Ein generell erstrebenswerter Zustand. Der cusanische Sprachphilosoph und proletarisierende Comedian Tom Gerhardt nahm dies in den 1990er Jahren durch die Markenzeile “Voll normaaal” auf die Schippe. Als debil inszeniert, wurde dem Publikum klar gemacht, dass Leute, die sich für voll normal halten, eigentlich marginalisierten Unterschichten zuzurechnen sind, bei denen weder Sprache noch Denken noch Wohnungseinrichtung der herrschenden Stillehre entsprechen.
Ähnlich inakzeptabel erklärte ein Stefan Pestitschek in einem Leserbrief an die “Kronenzeitung”:
“Mich stört das Wort Neger nicht, was mich aber aufregt, ist der Sexualkundeunterricht, bei dem schon Vorschulkindern eingetrichtert werden soll, dass jede Perversität, jede Abartigkeit usw. mit einem normalen Sexualleben und einer normalen Familie gleichgestellt wird. Darüber regen sich die Guten nicht auf, im Gegenteil, sie bevorzugen Schwule, Lesben, Pädophile usw. und ziehen normale Familien in den Dreck.
Irgendetwas stimmt in dieser Gesellschaft nicht, das Abnorme wird über das Normale gestellt, die Interessen von Verbrechern über die Rechte der Opfer, die Gewohnheiten von Zuwanderern über das eigene Gesetz und die eigene Kultur usw.”[1]
Selten ist auf so engem Raum so viel von Normalität die Rede, ohne dass der Autor über Normalität reden will. Denn offenbar will er hier über die gesellschaftliche Ordnung sprechen, das Oben und Unten, das ihm irgendwie verkehrt vorkommt, wenn “das Abnorme” (angeblich) oben ist. Das Abnorme, genauer gesagt die Abartigen, also die Anderen, die Nicht-Ichs, die gehören nach Pestitscheks unhinterfragbarer Überzeugung nach unten, ganz nach unten. Sie sind Verbrecher. Das ist so wie Einwanderer. Die verstoßen per se schon gegen “das eigene Gesetz und die eigene Kultur usw.” Dass “die eigene Kultur” von den Vätern und Vatersvätern bis hinauf zu den Germanen ererbt sei, das “eigene Gesetz” also konsequenterweise rassereine Volksgemeinschaft zur Ausmerzung aller Anderen lautet, das muss man sich selbst dazudenken. Statt solche Leute einfach Nazis zu nennen, empfiehlt sich vielleicht die wissenschaftlich-neutrale Bezeichnung als Sozialdarwinisten.
Denn Sozialdarwinisten glauben, dass das “Gesetz der Natur”, nach dem sich die Evolution gerichtet habe, auch in Gesellschaft Anwendung finden müsse und solle. Auf dieser Grundlage identifizieren sie “normal” mit “natürlich”, also “der natürlichen Ordnung entsprechend”, und fordern, dass menschliches Handeln und menschliches Gesetz sich dieser angeblichen Ordnung anpassen müsse. Deshalb ist Normalität vorgeschrieben, so wie bei einer DIN-Norm. Normal heißt dann: vorschriftsmäßig.
Dierk
Klar, was der Herr Leserbriefschreiber – auf den von dir eingeworfenen Unkomiker gehe ich nicht weiter ein, das ist eine völlig andere Baustelle – schreibt, ist selbstverständlich Unfug. Allerdings geht es ihm ja nicht um Normalität, ihm geht es um Normierung. Er sieht sich selbst, sein Leben, seine Vorlieben. Die hält er für in Ordnung und will sie allen anderen aufdrängen.
Sein Umfeld bestätigt ihn doch auch, seine Familie und seine Nachbarn scheinen doch genau wie er zu sein. Denkt er. Für einige Messwerte stimmt das vermutlich sogar: Samstagvormittag Wocheneinkauf mit dem Auto, sonntags in die Kirche und zum Frühschoppen, Montag bis Freitag um halb Acht los zur Arbeit, um kurz vor Sechs abends wieder zuhaus. Alle tragen unauffällige Klamotten, verhalten sich – meist – ruhig, stören niemanden, könnten auch als reine Deko der Vorstadt durchgehen.
Bis zu einem gewissen Grad hat der Mann also Recht.
Normal ist erst einmal nichts weiter als eine statistische Aussage: Für ein Merkmal lässt sich eine Verteilung erstellen, wie oft eine bestimmte Ausprägung dafür in der Bevölkerung vorkommt. Dabei finden wir einige Ausprägungen sehr wenig, andere oft. Und dann haben wir Ausprägungen, die von sehr vielen Menschen geteilt werden.
Dummerweise ist das nicht ganz so einfach. Nicht, weil die statistischen Grundideen nicht stimmen, sondern weil das echte Leben ein wenig komplexer ist. wir müssen nicht darüber reden, dass Statistik eine Vereinfachung darstellt, sehr grosse Datenmengen werden übersichtlich zusammengeschnurrt.
Für den klugen Soziologen fängt das bereits mit der Auswahl der untersuchten Merkmale an Er schaut nicht alle an, die so ein Mensch, die mehrere Millionen oder Milliarden Menschen hergeben, er sucht sich wenige aus. Am besten nur eines. Damit lässt sich nämlich arbeiten. Herr Leserbriefschreiber schränkt zwar ebenso ein, hat aber keine selbstkritische Sicht. Er fragt sich nicht, ob die Werte, die er für die gewählten Merkmale findet, möglicherweise bereits Mittelwerte sind. Das ist sein erster Fehler.
Sein zweiter Fehler ist die daraus folgende starke Einschränkung des mittleren Abschnitts, in dem sich die Normalwerte finden. Im Extremfall sieht sein Leben aus, wie in Dutzenden Satiren und Hunderten Cartoons immer wieder dargestellt: Alle Häuser der Nachbarschaft sehen gleich aus, all fahren dasselbe Automodell, alle haben denselben Mantel, denselben Hut, dieselbe Aktentasche … Frauen dieselbe Frisur etc. Er sieht nur den absolut genauen Durchschnittswert.
Das führt zum dritten Fehler. Er lässt keinerlei Abweichung zu. Das Auto des neuen Nachbarn ist rot, nicht silbergrau, ‘wie es sich gehört’. Er unterliegt somit einem Zirkelschluss, indem er erst den Durchschnittswert als gegeben sieht, diesen dann normativ festlegt, um ihn dann bestätigt zu finden.
Ob seine eingeschränkte Fantasie ausserdem keine andere als die göttliche oder natürliche Ordnung hinter allem erkennen will, kann ich nicht beurteilen. Es stimmt schon, dass diese beiden Buzzwords gerne genommen werden, um die eigene Beschränktheit wiederum zu bestätigen. Die starke Form des anthropischen Prinzips: Es ist so, weil es für uns so gefügt wurde; jede Abweichung gefährdet das Gleichgewicht.
Erbloggtes
So wie du das schilderst, habe ich den Eindruck, dass es per se reaktionär, zumindest aber erzkonservativ ist, den Begriff “normal” zu benutzen, so wie er in der Öffentlichkeit häufig benutzt wird. Alles soll so sein und bleiben, wie es angeblich ist, und immer war. Gehört “normal” damit auf den Index der verräterischen Wörter? Oder ist er auch für irgendwas nützlich, was man gut finden kann?