Erbloggtes
Neulich haben wir hier darüber gequatscht, dass man keine reinwissenschaftliche Politik machen und das ideologiefrei nennen kann, weil für Politik Normen benötigt werden, nicht bloß deskriptive Wahrheiten. Weil Wissenschaft nach deskriptiven Wahrheiten strebt und dabei auch ganz gute Erfolge erzielt, halten viele wissenschaftsaffine Menschen Wissenschaft auch für ein Konzept, dem in der Politik größere Bedeutung zukommen sollte. Das ist ja auch durchaus verständlich, etwa im Kampf gegen ideologiebasierte Diskriminierung:
Das BVerfG setzt sich über konservative Diskriminierungsmechansimen hinweg und folgt den Erkenntnissen der Wissenschaft. Das ist erfreulich.
— Thomas Stadler (@RAStadler) 19. Februar 2013
Dabei ist zu bemerken, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht etwa Wissenschaft gegen diskriminierende Ideologie setzt, sondern dass das Gericht zwei Dinge als ideologische Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland anerkennt und gegen andere Ideologien verteidigt: Erstens die im Grundgesetz formulierten Grundrechte, und zweitens die Stellung der Wissenschaft als Beweisbedingung für Tatsachen. Dass etwa gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft weniger wert oder für Kinder schädlich sei, weil in der Bibel immer von “Mann und Frau” die Rede ist, dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis, daher erkennt das BVerfG es nicht als Tatsache an.
Weil die eigene Ideologie immer schwer zu erkennen ist, weise ich hier aber mal darauf hin, dass die deskriptiven Wahrheiten, die die Wissenschaft liefern kann, ebenfalls auf ideologischen Grundlagen basieren, die keineswegs alternativlos sind. Sie sind zwar recht gut zu rechtfertigen, und meistenteils hänge ich dieser Ideologie namens “Wissenschaft” auch an. Aber jemand, der ganz andere weltanschauliche Grundannahmen mitbringt – ich denke da etwa an das Unfehlbarkeitspostulat des Papstes – kann sich schon aus diesem Grund nicht einfach von wissenschaftlicher Wahrheit überzeugen lassen.
Ist so jemand dann dumm, weil er mit meiner Ideologie nichts anfangen kann und eine andere hat? Und inwiefern soll ich solche Leute zwingen, meine Ideologie zu übernehmen: Etwa indem ich vor Gericht durchsetze, dass ich weiterhin in der Wohnung über ihnen mit dem Handy telefonieren darf, obwohl sie gefährliche Strahlung fürchten? Indem ich ihnen schlechte Noten für Aufsätze gebe, weil sie darin das unausgeschöpfte medizinische Potential der Homöopathie loben? Oder indem ich ihre Kinder unter die Schulpflicht zwinge und in der Schule lehren lasse, dass so ein Brite Mitte des 19. Jahrhunderts unumstößliche Wahrheiten verkündet hat, ein anderer Brite aber nur Unsinn?
Michael
Wissenschaft ist also laut dir eine Ideologie. Es gibt antiwissenschaftliche Ideologien. Anhänger antiwissenschaftlicher Ideologien können nicht mit wissenschaftlichen Argumenten überzeugt werden. Und daher stellt sich dir Frage, ob man Anhänger dieser antiwissenschaftlichen Ideologien irgendwie zur Akzeptanz der wissenschaftlichen Ideologie zwingen dürfe.
Ich habe mit deinem Ansatz zwei Probleme: Zum einen stellt sich mir die Frage nach deiner Ideologiedefinition. Der (im Bereich Wissenschaftsphilosophie nicht unbedingt sehr zuverlässige) Duden definiert Ideologie als:
a) an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. Ä. gebundenes System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen
b) politische Theorie, in der Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen (besonders in totalitären Systemen)
c) weltfremde Theorie
Das ist die Krux mit diesen Begriffen – gerade da man sie im Normalfall häufig recht unreflektiert benutzt und sie verschiedene Bedeutungen tragen, redet man gerne aneinander vorbei. Gerade da Ideologie gemeinhin als b) oder c) benutzt wird und Definition a) weniger bekannt ist, wirst du mit deiner These schnell Widerspruch auslösen. Ein anderes Wort oder eine genaue Definition ist daher extrem wichtig, um überhaupt diskutieren zu können.
Und darfst du jetzt den Menschen mit Angst vor Mobilfunkstrahlung verklagen, damit du auch weiterhin in der Wohnung über ihm telefonieren kannst? Ja, natürlich. Wissenschaft funktioniert ja gerade dadurch, dass man alle möglichen Indizien für oder gegen eine Schädlichkeit der Strahlung testet. Im Falle Mobilfunk wirst du nach dem aktuellen Stand darlegen können, dass die Strahlung für den Menschen unter dir unschädlich ist. Willst du hingegen eine Radarstation oder ein Atomkraftwerk in deiner Wohnung betreiben, wird dir das schwerer fallen.
Dierk
Ich möchte gerne noch einmal auf den Unterschied ‘Ideologie’ und ‘Dogma’ hinweisen. Da wir eine letztendliche Gewissheit darüber, wie die Welt beschaffen ist, nicht haben können, sondern nur unser Bild der Wirklichkeit [immer besser] nähern können, lässt sich fraglos nach genannter Definition a) Wissenschaft als Ideologie sehen. Ich habe damit auch überhaupt kein Problem, denn viel wichtiger als “die” Wissenschaft ist ja die Methode, die wir benutzen, um die Welt zu verstehen. Und die – Skepsis, wissenschaftliche Methode, Ausschlussverfahren … wie immer wir sie bezeichnen – hat den Vorteil, nicht dogmatisch zu sein.
Der abfällige Gebrauch des Wortes ‘Ideologie’ bezieht sich deutlich auf dogmatische und teleologische [bzw. so wahrgenommene] Ansprüche. Der einzelne Wissenschaftler mag betriebsblind oder auch auf Teufel komm raus seine ursprüngliche Hypothese belegen wollen, auch wenn die gefundenen Ergebnisse gegen sie sprechen. Aber das ist nicht, was den wissenschaftlichen Prozess ausmacht, der von vielen Wissenschaftlern überprüfend ausgeübt wird.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diejenigen, die der Wissenschaft vorwerfen, auch nur so eine Ideologie zu sein, nicht ohnehin Rationalität/Rationalismus meinen. Immerhin benutzen sie alle Telefone und Flugzeuge.
Erbloggtes
Mir geht’s hier tatsächlich um Erkenntnistheorie und die Duden-Definition a). Nicht nur normative Fragen (Wie sollen wir leben?) sind ideologisch begründet, sondern auch deskriptive Fragen (Wie ist die Welt?) haben eine solche Grundlage. Meiner Ansicht nach basiert eine politische Ideologie (Definition b) aus dem Duden) auf unseren Überzeugungen darüber, wie die Welt beschaffen ist (Definition a) aus dem Duden). Dein Argument dazu, Dierk, finde ich cool:
Dass die Wissenschaft eigentlich bloß Skepsis, systematischen Zweifel, voraussetzt. Und wenn man skeptisch bleibt, dann ist die beste Welterkenntnis eben die, mit der man die meisten Mitmenschen überzeugen kann (heute noch etwas verfeinert durch Institutionalisierung der Wissenschaft). Und das geht eben nicht so gut, wenn man eine Erkenntnis direkt von Gott oder durch Meditation erlangt haben will (was kaum einer nachmachen kann).
Das verstehe ich als historisch-deskriptive Begründung, warum die Wissenschaften sich durchgesetzt haben – und es auch durchsetzen konnten, dass der Staat (insbesondere der moderne demokratische Rechtsstaat) die Geltungsansprüche der Wissenschaft unterstützt. Es ist zwar keine normative Begründung dafür, warum der Staat Leute zur Akzeptanz der wissenschaftlichen Wahrheit zwingen darf, hilft mir aber schon mal sehr viel weiter. Danke schön!
Dierk
Na ja, ‘ist die beste Welterkenntnis eben die, mit der man die meisten Mitmenschen überzeugen kann’ ist sicherlich nicht das, was ich unterschreiben würde. Es gibt da zwar einige philosophische Richtungen, die das so oder ähnlich glauben – und ich meine hier ‘glaube’ wie ‘religiös’ -, aber die konzentrieren sich nur auf das Bild, das wir aus unseren Erkenntnissen über die Welt konstruieren. Wir erschaffen dabei nicht die Welt, wie gerne falsch verstanden wird, wir rekonstruieren sie uns als Abbild.
Ob Wissenschaft sich tatsächlich so erfolgreich durchgesetzt hat, wie du andeutest, Erbloggtes, wäre auch noch die Frage. Ich komme oben ja auf ganz praktische Beispiele angewandter Wissenschaft, also Ingenieursprodukte. Meine Erfahrung ist, dass praktisch alle Menschen die Annehmlichkeiten der Ingenieure herzlich umarmen, aber oft die Grundlagen ablehnen. Das muss keine aktive Ablehnung sein, bei der sich Menschen gegen z.B. GMO oder AKW stellen. Oft handelt es sich um bloße Verständnislosigkeit, dass hinter einem Auto oder LED-Monitor oder TV-Empfang ein gerüttelt Maß an Wissenschaft und Grundlagenforschung steckt.
Geht es hart auf hart, setzt sich jene Mischung aus Unverständnis und Bequemlichkeit durch, die zur religiösen Verehrung führt. Diese kann sich in klassischer Religion, von Animismus bis abrahamischem Monotheismus, ebenso ausdrücken, wie in Pseudowissenschaft und vagen Zurück-zur-Natur-Parolen.
Wissenschaft ist anstrengend – sowohl die Methode als auch die Institution.
Erbloggtes
Ok, für Dich ersetze ich die Konsenstheorie der Wahrheit durch die Korrespondenztheorie, auch wenn … aber lassen wir das. Also: Wenn man skeptisch bleibt, dann ist die beste Welterkenntnis eben die, mit der man die wenigsten Überraschungen erlebt – oder die, mit der man die Welt am erfolgreichsten verändern kann. Dass das wünschenswert ist, das ist natürlich auch eine ideologische Festlegung, aber eine bislang ziemlich erfolgreiche.
Joachim
Ich fürchte, ihr macht es euch zu einfach mit dem skeptisch sein. Denn darin, dass wir fremden Meinungen gegenüber skeptisch sein müssen, dürften du, liebes Erbloggtes, und dein Nachbar einig sein. Er bezweifelt zu recht, dass die Wissenschaft beweisen kann, dass Handystrahlung gar keinen negativen Einfluss auf seine Gesundheit hat. Du bezweifelst mit demselben Recht, dass die Wissenschaft die Schädlichkeit von Handystrahlung beweisen kann. Damit seid ihr in einer Patt-Situation und die Frage ist: Welche Grundvoraussetzungen lassen wir bis zum Beweis des Gegenteils gelten?
Die Ideologie der Wissenschaft ist keineswegs der reine Empirismus. Wir beobachten, messen, erfahren und bekommen daraus dennoch kein verlässliches Bild der Umwelt. Dass reiner Rationalismus nicht funktioniert, ist ebenfalls seit vielen Jahrhunderten bekannt. Viele Welten sind logisch denkbar. Warum, zum Kuckuck, ist der Raum nicht einfach euklidisch und die Zeit absolut? Das wäre doch viel einfacher und logischer als diese vertrackte Einsteinsche Raumzeit, die eh kaum ein Mensch durchschaut. Und kann die Ideologie der Wissenschaft die reine Skepsis sein? Wohl kaum. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur zweifeln würde, wären wir von den Bäumen noch nicht runter. Viele große Wissenschaftler waren tiefgläubige Menschen oder naive Materialisten und sind gerade wegen ihres starken Glaubens, wie die Natur sein müsse, vorangekommen.
Ich glaube, dass wir oft vergessen, wie sehr die Wissenschaft davon lebt, dass ihre Ausführenden Vorurteile haben, die sie ums Verrecken bestätigt sehen wollen.
Michael
Ist “der” Staat denn überhaupt so wissenschaftlich, wie du behauptest, Erbloggtes? Und wird den Kindern in der Schule wirklich “die” Wissenschaft vermittelt? Ist es nicht eher so, dass im Politikbetrieb die wissenschaftlichen Argumente häufig eher sekundär für die Entscheidungsfindung sind? Auch in den Schulen wird vieles vermittelt, aber eben nicht die “pure wissenschaftliche Ideologie”. Je nach Bundesland und Lehrplan geben sich da veraltete wissenschaftliche Hypothesen, krasse Vereinfachungen und manchmal auch unglaublicher Blödsinn die Klinke in die Hand. Die Liste ließe sich noch endlos weiterführen. Ich habe immer noch Zweifel, wie du Wissenschaft als Ideologie zu definieren, aber noch weniger sehe ich “den” Staat bedingungslos diese Ideologie “der” Wissenschaft vertreten. Dafür verhält er sich in vielen Bereichen zu irrational und eben zu unwissenschaftlich. So werden regelmäßig Dinge verboten oder streng reguliert, die wissenschaftlich eigentlich recht harmlos sind, nur weil es eben wie in deinem Handystrahlenbeispiel gewisse Ängste und Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung gibt. Videospiele wären hier wohl das prominenteste Beispiel.
Erbloggtes
Also ich habe den Eindruck, dass wir hier nicht von den gleichen Ausgangspunkten zu denken anfangen. Daher ist es gar nicht so einfach, den inneren Zusammenhang in unserer Diskussion zu finden. Je öfter man sie liest, desto ungleichnamiger werden die zahlreichen Aspekte, über die wir reden.
Mein Fazit lautet, dass der moderne demokratische Rechtsstaat keine andere Wahl hat, als sich an der Wissenschaft zu orientieren. Denn beide teilen miteinander die Berufung auf Beweisbarkeit und Objektivität (oder Intersubjektivität). Dass das in der Lebenswirklichkeit nicht ganz so grundsätzlich aussieht, wie es in der Theorie klingt, ist klar. Ich bin aber überzeugt, dass unsere Institutionen bis hin zum BVerfG im Hinblick auf Tatsachenbehauptungen in der Regel wissenschaftliche Ergebnisse anerkennen. Und wenn – wie gestern – ein Abgeordneter sagt, er wolle, dass in der Schule gelehrt werde, dass eine Familie aus Mann, Frau und Kind(ern) bestehe, dann freue ich mich, dass er das nicht effektiv erzwingen kann.
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Wo sindenn die Beschucher geblieben, HerrFrau BarkeeperIn? Ach soo, Montag.
Eine caipirinha bitte, brauche jess einen klaren Kopf – schliesslich dreht es sich hier um Wischensaft.
Allso: Ideologie und Wissenschaft.
Ich bin Laie und Laien dürfen manchmal ein Bitzeli frech sein. Somit behaupte ich frech:
In der Wissenschaft an sich, tauchen manchmal spontan aus Ideologie gebastelte Fragmente auf. Etwa wie Gasblasen aus stehendem Gewässer. Diese Blasen welche beim platzen zum Beispiel „Quatsch“ sagen, stören mit ihrem Geruch die heimelige Vernunftathmosphäre. Ich mag dieses Wort.
Erbloggtes sagt am Schluss:
„Mein Fazit lautet, dass der moderne demokratische Rechtsstaat keine andere Wahl hat, als sich an der Wissenschaft zu orientieren“…
Gefällt mir. Und zwar weil Mutti Wissenschaft ein dickköpfiges Schwesterchen hat die da heisst Bürokratie. Für einen wie mich sehen die Beiden wie siameschis.. sische Zwillinge aus.
Zusammengewachsen, ineinander verfilzt sozusagen. Das Verflixte dabei ist dass besagter Filz trotz Sumpfgasausbrüchen in zäher Beharrlichkeit vorwärts strebt um dabei Sinvolles zu erzeugen. Selbstverständlich Sinvolles nach bürokratischen Regen äh Regeln (sin: Sünde).
Jetzt weiss ich auch definitiv warum man in Büros nicht mehr rauchen darf…
Und was sagt Pappi Gorilla dazu?
Du vielleicht intelligenter – aber ich Silberrücken. Ha!
:)