Führungspersönlichkeit im Netzwerk gefangen

AndreaAndrea
Egal bei welchem Thema, ob ISIS, Fußball, Wirtschaft oder Politik, immer wieder geht es darum, welche Führungsperson versagt hat, oder wer, was, wie anders machen kann, damit alles gut wird:

Aus unserem eigenen Alltag wissen wir alle, dass es nie darum geht, was eine/einer macht, sondern immer darum, auf welchem Wege viele effizient zusammen wirken. Aber wieso gibt es all die Artikel rund um wer was wie führt – und wieso verdienen leadership coaches so gut?

Weil die Vorstellung „einer allein bringt den Wandel“ eine Form von „jemand anders, nicht ich“ und somit für uns alle angenehm ist; gerade dann, wenn wir uns eigentlich (noch) nicht bewegen wollen. Und weil sich damit, einem Einzelnen einzureden, dass es an ihm/ihr hängen würde, seit Jahrhunderten insbesondere für eine Gruppe Macht und Einfluss gewinnen lässt: Berater und Medien.

Machiavellis Der Fürst war auch ein Versuch, der zuerst darauf zielte, nach der Zeit in Haft endlich selbst vom Abstellgleis wegzukommen und wieder Einfluss zu gewinnen  Aber vielleicht ist alles auch ganz anders, und dann gibt’s ja auch noch „Berater und andere Hofnarren“.

Dierk HaasisDierk
Ende Dezember 1944 marschierten Teile der 3. Armee unter General Patton durch die Ardennen auf Bastogne zu, schlugen die Wehrmacht zurück und ermöglichten die Entlastung der US-Truppen, von denen die kleine Stadt verteidigt wurde. Den Kampf führten die für die Geschichtsbücher meist namenlos gebliebenen Soldaten. Den Ruhm erhielt Patton.

Gleiches geschah immer wieder: Viele Menschen kämpften und starben, aber den Ruhm bekam eine Führungspersönlichkeit – Patton, Hindenburg, Napoleon Bonaparte, Henry V. Sogar der Alte Fritz. Selbstverständlich funktioniert das auch anders herum, siehe John Lackland oder Richard III.

Es stimmt schon, irgendwie scheinen wir Führerfiguren zu brauchen, die wir mythisch überhöhen – mal zu grossen Helden, mal zu Versagern, die an allem Schuld sind. Doch ist es wirklich so, dass wir die Leistungen der Netzwerke, wie Andrea sie andeutet, unterschätzen, die einzelne Persönlichkeit überschätzen? Ist das ein Problem westlicher Lebensentwürfe und Ideologien? Ist es reine PR? Auf jeden Fall ist es kein modernes Phänomen, wie die Beispiele schon zeigen.

Die üblicherweise als westliche Literatur gezählte kommt von Beginn an nicht ohne die besonders Befähigten aus. Die Mythen der Ägypter, die Epen der Griechen, die später zur Bibel zusammengeführten hebräischen und aramäischen Volkssagen – immer wieder steht im Zentrum eine leuchtende oder tragische Heldengestalt, die sich gegen die Widrigkeiten durchsetzt und das einfache Fussvolk zum Sieg oder zumindest an den goldenen Herd führt.

Das lässt sich als PR abtun, aber steckt nicht doch eine ganze Menge Wahrheit dahinter? General Patton galt bereits zur aktiven Dienstzeit als unberechenbar,  gefährlich für Untergebene und Gleichgestellte. Sein Verhalten hätte mehrfach zur Enthebung von seinem Kommando führen müssen. Tat es aber nicht, weil er seine Truppen in einer Form zusammenhielt und inspirierte, die ihresgleichen sucht. Ja, seine Soldaten kämpften – nicht für hehre Ziele, sondern für ihren leitenden Offizier.

Auch wenn das Bild, das Shakespeare uns von Henry V. zeigt, mit den historischen Fakten wenig zu tun hat, so hat er den Geist der Führung sauber heraus gearbeitet: Die englischen Truppen ziehen für ihren Prinz Harry ins Feld, für nichts Anderes.

AndreaAndrea
Genau so würden es die Fürsten aller Zeiten gerne sehen, auch wenn die Soldaten aus purer Existenznot und Hoffung auf besseres Essen losziehen. 

Dierk HaasisDierk
Wirtschaftsbosse, Fussballtrainer, führende Politiker sind eben mehr als ein Zahnrad im Getriebe. Immerhin benötigt ein Getriebe auch einen Antrieb und ein Ziel. Hier kommen Führungsfiguren ins Spiel, sie geben eine Richtung vor, sie gestalten Arbeitsabläufe, sie motivieren die Mitarbeiter. Sie machen rational und emotional klar, warum der eingeschlagene Weg von allen beschritten werden muss.

AndreaAndrea
Aber so wenig Dimensionen inklusive linearem Konzept mit Anfang und Ende hat nichts im modernen Leben, nicht mal Wirtschaft.

Dierk HaasisDierk
Selbstverständlich werden Erfolg oder Misserfolg an diese heraus ragenden Menschen gehängt. Zeigt sich, dass der bevorzugte Weg eine gute Wahl war, hat ER oder SIE es geschafft. Dazu gehört auch das Mitnehmen aller, die dafür jeden Tag hart gearbeitet haben. Findet das Team sich in einer Sackgasse wieder, ist es keine ganz dumme Idee, den Führer auszuwechseln.

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Es ist gewiss richtig, dass wir es gewohnt sind, Einzelpersonen als wichtige Akteure wahrzunehmen, auch dann, wenn es eine angemessenere Darstellung wäre, von agierenden Gruppen zu sprechen. Wir glauben auch, personale Akteure und ihr Handeln besser verstehen zu können als die potentiell chaotische, also unverständliche, Gruppendynamik. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass unsere gewohnten Geschichten so strukturiert sind. Es gibt darin nur eines, was schlimmer ist als eine chaotische Gruppe: eine gesichtslose Masse.

Rote Flut, gelbe Horde, brauner Mob, schwarzer Block – angstbesetzte Vorstellungen. Dann doch lieber an einen einzelnen Führer glauben, der in der Lage ist, der willenlosen Masse zu gebieten, sie zurückzuhalten, zu kontrollieren. Führerfigur und Masse bedingen einander aus dieser Außenperspektive. Wir wollen an den Führer glauben, weil wir das Chaos nicht verstehen. Hitler, sagte man damals gern, würde alle Gräueltaten der Braunhemden verhindert haben, wenn er davon gewusst hätte. Heute lautet der Volksglaube eher, Hitler sei die Quelle aller Nazigräuel. Die Struktur beider Legenden ist identisch.

Die NS-Forschung spiegelte diese Legenden in der Kontroverse zwischen Intentionalisten (Hitler!) und Funktionalisten (Chaos!) wider. Dagegen hat die Neuere Täterforschung der Masse der Massenmörder Gesichter gegeben. Neben die Befehl-Gehorsam-Rhetorik, die nicht zuletzt der Selbststilisierung der Täter als unter Befehlsnotstand Handelnde entstammt, traten biographische Erfahrungen, Kameradschaftsdynamik und institutionelle Einbindung der konkreten Handelnden, die überzeugender das konkrete massenmörderische Geschehen erklärt als die Führung-Masse-Dichotomie.

Leadership ist in dieser Perspektive eine leicht zugängliche Vereinfachung komplexer Realitäten. Aber angemessen oder erklärungskräftig ist der Führerglaube nicht.

MichaelMichael
Kann man eine Diskussion um Führer ohne „den“ Führer führen? Wie Ian Kershaw in The End schreibt, gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Person Hitler, dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 und dem bis zum bitteren Ende geführten Krieg. Die wirklich interessante Frage zum Ende des Zweiten Weltkrieges ist nämlich, warum er trotz der völlig aussichtslosen militärischen Lage so lange geführt wurde – und das lässt sich eigentlich nur über die Person Hitlers erklären. Erst als dieser Selbstmord begangen hatte, war eine Kapitulation überhaupt möglich.

Gleichzeitig stellt der Führerstaat Nazideutschland natürlich eine Ausnahme dar – in den meisten Fällen ist die Bedeutung von Ministern, Kanzlern oder Königen nicht so dramatisch. Die Bedeutung von Führungspersönlichkeiten sollte man also nicht unterschätzen – auch wenn diese natürlich meistens in ein gesamtes Führungsnetzwerk integriert sind, in dem bei Ausfall oder Toddrohnung des Oberhauptes neue Personen in die Führungsrolle aufsteigen können.

Es wäre auch utopisch zu denken, dass eine einzige Person wie Mehdorn im Alleingang die Probleme einer völlig unfähigen Flughafenmannschaft lösen könnte. Ok, wie bekomme ich jetzt den Bogen von Hitler über Mehdorn hin zu ISIS? Ich glaube, ich versuche es lieber gar nicht. Dafür weiß ich zu wenig über die interne Struktur von ISIS, bei anderen religiösen Sekten zeigt sich allerdings nach dem Tod des Gurus häufig ein rapider Zerfallsprozess.

Dierk HaasisDierk
Ein Henne-Ei-Problem: Waren erst die Mythen strukturiert [und wenn, warum eigentlich] oder erkennen wir a priori – um nicht ‘angeboren’ zu schreiben – eine ordnende Hand an, wenn es um komplexe, aber begrenzte Prozesse geht? In der Geschichtswissenschaft war das eine kleiner Streit in den 1960ern und 70ern, der dazu führte, dass neben der üblichen säkularen Hagiografie ein Zweig entstand, der sich mit den Lebensumständen des einfachen Volkes befasste.

ErbloggtesErbloggtes
Die Erfahrungswelt des „einfachen Volkes“ ist aus meiner Sicht die Grundlage dessen, was es erkennen kann. Insofern ist das Erkennen einer ordnenden Hand nicht a priori, sondern in konkreten Lebenserfahrungen begründet, vielleicht auch in frühkindlichen Erfahrungen, dass ein „großer Mann“, zunehmend auch eine „große Frau“ die Geschicke der eigenen kleinen Welt gelenkt hat. (Insofern wäre die große Zahl alleinerziehender Mütter seit den Weltkriegen Grundlage der wachsenden Akzeptanz, die Frauen in Führungspositionen genießen.) Dass solche Prägungen auch Entstehung und Tradierung von Mythen strukturiert haben, finde ich keine gewagte Annahme.

Nun könnte man sagen: Wenn in Gesellschaften mit strukturell starken Familienvätern alle mit einer solchen Führungsfigur aufwachsen, dann ist Monarchie da gewissermaßen die natürliche Staatsform und Führerglaube selbstverständlich. Aber man muss bedenken: Die Familienväter sehen sich selbst ja als verantwortliche Lenker an, und untereinander empfinden sie sich wahrscheinlich erstmal als gleichberechtigt. Das gibt Raum für Netzwerke und für demokratischere Entscheidungsprozesse. Die alten Römer kannten solche mächtigen Vaterfiguren als pater familias, geradezu Kleinstkönige. Und zu den Erfolgsfaktoren der Römischen Republik gehörte es sicherlich, dass sie nicht durch den plötzlichen Tod eines Anführers ins Chaos stürzte: Dann rückte eben ein anderer Aristokrat nach.

Dierk HaasisDierk
Der ursprüngliche Austausch auf Twitter drehte sich um die Frage, ob wir im Westen uns bei der Beurteilung östlicher Gruppen zu sehr auf das Führerprinzip verließen, ob es wirklich hilfreich ist, einen Osama bin Laden oder Abu Bakr al-Baghdadi bzw. Abu Omar al-Shishani auszuschalten, da nah- und fernöstliche Weltbilder eher auf Netzwerke setzten. 

Mir ist bis heute keine Kultur untergekommen, noch weniger eine Zivilisation, die nicht das Führerprinzip nutzt – China und sein erster Kaiser [der die Einheit des Landes erreichte], in Japan sind die Epochen nach Kaisern oder Shoguns benannt [dazu gibt es historische Helden wie Musashi Miyamoto], der Islam hat neben Mohammed die Kalifen [das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten basiert auf einer Thronfolgeregelung]. Selbst sozialistische Gesellschaften überwanden das Führerprinzip nicht. Im Gegenteil, es wurde dort zu einem Personenkult, wie er selten in der Weltgeschichte zu finden ist.

AndreaAndrea
Ein Beispiel für Kultur ohne Hierarchie: Aborigines.

Dierk HaasisDierk
Ich glaube nicht, dass wir ein despotisches oder diktatorisches System brauchen, das eine Gesellschaft zusammenhält, gegebenenfalls langsam in die Modernisierung lenkt oder konservativ an Veränderungen hindert. Beides hat es gegeben. Es gab auch in Demokratien, klassischen wie modernen, immer wieder einzelne, die einen Weg zeigten, dem man gerne folgte, weil man dem Zeigenden vertraute. Eine Sache des Charismas, dem wahrscheinlich einzigen Kennzeichen, das alle Führer teilen.

Nimm diesen charismatischen, zusammenhaltenden Menschen weg und die Geschlossenheit bricht auf. Nur selten gibt es sofort einen guten Ersatzführer, je länger aber die Suche nach einem Menschen braucht, dem man folgt, egal wie irre seine Pläne sind, desto schwieriger wird es, Zusammenhalt zu erreichen. Bei Staaten mit hoher Bevölkerungszahl mag alleine die Trägheit der Masse ausreichen, siehe UdSSR, China. Kleinere Gruppen wie IS oder gar lockere Bünde wie Al Qaeda überleben den Verlust von Führern selten lange. Der Name mag bleiben, aber die Schlagkraft ist weg.

Anmerkungen:
2. Es ist purer Zufall, dass einer der herausragenden Geschichtswissenschaftler in diesem Bereich Helmut G. Haasis ist.
Es ist purer Zufall, dass einer der herausragenden Geschichtswissenschaftler in diesem Bereich Helmut G. Haasis ist.
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