Erbloggtes
Sagt mal, Jungs und Mädels, findet Ihr es eigentlich irritierend, dass ich zu Silvester ohne irgendwelche rauschinduzierenden Substanzen eine zwölfstündige Party gefeiert habe? Ich meine, es gibt ja gute Gründe, grundsätzlich oder an speziellen Tagen keinen Alkohol zu trinken. Aber die lagen alle nicht vor. Es war sogar jemand zum Nüchternbleiben und Autofahren ausgesucht, aber nicht ich. Ich hatte auch nicht geplant, nichts zu trinken, sonst hätte ich den Job ja übernehmen können. Was bedeutet das wohl?
christorolia
Ist das eine Aufforderung, über den Zusand Deiner Seele zu psychologisieren? Muss wohl, denn wenn Du diesem (Nicht-)Ereignis keine Bedeutung beimessen würdest, hättest Du es hier vermutlich nicht angesprochen.
Die einfachste Erklärung ist natürlich, die unbewusste Ablehnung aufgrund schlechter Erfahrungen. Gerade am 1. Januar haben ja schon einige von uns furchtbar leiden müssen.
Vielleicht aber hat Alkohol bei Dir auch keine entscheidende Wirkung. Du bist eh schon lustig, gelassen und entspannt, die Rezeptoren im Hirn sind mehrheitlich belegt, Dein Noradrenalin-Haushalt ist nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Erbloggtes
Vielleicht ist es das Letztere, vielleicht sind’s auch unbewusste psychologische Gründe. Ich hatte aber eher an kulturelle Faktoren gedacht. Die gebieten doch in unseren Breiten eigentlich an Silvester Alkohol, oder? Zumal wenn keine Ausnahmegründe dem entgegenstehen.
christorolia
Klar, sich gemeinsam in Rauschzustände zu versetzen, hat in nahezu allen Kulturen Tradition. Es kann aus vielerlei Gründen aber hoch interessant sein, an einer Orgie lediglich als Zuschauer teil zu nehmen und diese somit aus einer anderen Perspektive wahr zu nehmen. Man könnte also Forschungstrieb unterstellen. Es wäre aber ebenso nachzuvollziehen, zu sagen “Ich habe einfach die Schnauze voll von diesen Gruppenbesäufnissen”. Ich finde es ziemlich konsequent, wenn man solchen gesellschaftlichen Normen bewusst oder unbewusst aus dem Weg geht bzw. sich nicht aktiv beteiligt.
Erbloggtes
Also Forschungsdrang war’s nicht, und Gruppenbesäufnisse lehne ich auch nicht generell ab. Wahrscheinlich gab es einfach keinen guten Grund für Alkohol – außer die erwähnten Normen. Solche Normen finde ich ja generell verdächtig. Aber mal ganz abgesehen von meiner Person – wie haltet Ihr’s denn mit dem Rausch?
christorolia
Ich halte das Erleben eines gelegentlichen Rauschs für sehr wichtig. Je näher wir an der Wirklichkeit leben, desto dringender das Bedürfnis, aus der Wirklichkeit auszubrechen, um “das Andere” im Leben zu spüren. Rausch ist Befreiung, eine Art Rückschritt, der Weg des Wissens rückwärts. Grenzenlose Möglichkeiten statt fortwährender brutaler Realität.
jhermes
Die Zuschreibung grenzenloser Möglichkeiten ist dem Rausch wohl etwas zu sehr geschmeichelt. Tatsächlich aber lassen sich Grenzen verschieben – die der eigenen Wahrnehmung (auch der selbstbezogenen), v.a. aber die in der Interaktion mit anderen. Nach dem gemeinsamen Betrinken (oder dem Konsum sonstwelcher psychoaktiver Substanzen) steht man vielleicht ganz anders zueinander als vorher. Das funktioniert wahrscheinlich auch ohne Katalysator Rausch, aber eben zögerlicher. Mit Rausch kommt man schneller voran, landet unter Umständen da, wo man ohne nicht hingekommen wäre oder gar nicht hin wollte und man bezahlt. Das ist zumindest bei mir so. In jedem Fall. Deshalb überleg ich’s mir inzwischen lieber mehrfach, ob ich mich dem aussetze.
christorolia
Nur am Rande: Ich persönlich halte Alkohol für ein verdammt schlechtes Rauschmittel, um das Bedürfnis nach Befreiung im Rausch zu erleben. Da gibt es Bessere. Zudem wird Alkohol aufgrund der ständigen Verfügbarkeit und der kulturellen Verwurzelung häufig als Medikament benutzt, hauptsächlich wegen psychischer Unpässlichkeiten. Aufgrund des schlechten Wirkprofils und der starken Nebenwirkungen würde Alkohol als Medikament garantiert keine Zulassung bekommen.
Ute
Manchen fällt das Feiern mit Alkohol leichter, weil sie dann – wie schon beschrieben – enthemmter und vermeintlich lustiger werden. Dummerweise verstärkt Alkohol nach meiner Erfahrung die Grundstimmung, in der man sich ohnehin schon befindet. Wer also depressiv ist, sollte von Alkohol lieber die Finger lassen. Und wer albern ist und dann noch trinkt, wirkt auf Nüchterne gerne nur noch peinlich. Nur merkt er’s halt nicht. Aber zum eigentlichen Thema zurück: Meiner Meinung nach ist auch Silvester ohne Alkohol völlig akzeptabel. Ich bin sogar ganz froh, dass es inzwischen genug Problembewusstsein gibt, so dass das Trinken nicht mehr “zum guten Ton” gehört, sondern jeder eine eigene Entscheidung treffen kann. Ich habe dieses Jahr übrigens auch ohne Alkohol gefeiert und an diese Tatsache bis gerade eben noch gar keinen Gedanken verschwendet. Ich trinke manchmal monatelang keinen Alkohol, ohne dass mich jemals jemand dafür schief angeschaut hätte.
Dierk
Das bedeutet, dass du ein gesundes Verhältnis zu Alkohol hast und dich – hoffentlich – nicht zu sehr von den gesellschaftlichen Normen bestimmen lässt. Ich trinke auch gerne Alkohol – sowohl als Wein wie Bier oder Single Malt Scotchs und gute Grappas. Aber zum Genuss, nicht weil es mich besonders männlich macht. Und Genuss ist nicht von arbiträren Feierdaten abhängig. Und sollte nicht von der jeweiligen Peer Group abhängig gemacht werden.
Erbloggtes
Aus Dir spricht der starke Drang, frei zu sein. Nicht nur von Drogen kann man abhängig sein, sondern auch von gesellschaftlichen Normen, Feierdaten, Peer Groups und anderem. Sich das bewusst zu machen ist ein wichtiger Schritt zur persönlichen Freiheit. Darauf trinke ich. Prost!
Ich glaube, dass dem Menschen ein gewisser Hang zu Rauschmitteln innewohnt. Schaut man sich die Geschichte der Menschheit an, dann sind berauschende Getränke, Kräuter etc. absoluter Standard. Auch aus physiologischer Sicht machen Rauschmittel “Sinn”, sie können z.B. sofortige Zufriedenheit verursachen.
Jetzt haben wir in unserer Gesellschaft aber eine merkwürdige Situation; Drei Rauschmittel (Alkohol, Tabak, Koffein) sind legal und werden in Massen konsumiert. Andere Rauschmittel hingegen sind illegal, werden aber auch von größeren Teilen der Bevölkerung konsumiert (v.a. THC). Und wir geben diverse Rauschmittel nur durch Ärzte unter mehr oder weniger guter Kontrolle ab (Schmerztabletten, Psychopharmaka & Dinge, die alte Leute so bekommen). Alkohol nimmt hier als einzige legale Droge, mit der man eine wirkliche Wirkung erziehlt (Mit Kaffee & Tabak kann man sich ja nicht “betrinken”) eine Position ein, die ihm eigentlich so nicht zusteht: Er übernimmt die Rollen, die eigentlich andere Rauschmittel besser können. Das abendliche Entspannungsbier schmeckt zwar, aber vllt. ist eben doch der Joint dafür eben doch besser geeignet. Auch zum Frusttrinken ist Alkohol nicht sonderlich geeignet, wird aber genommen, weil er legal und verfügbar ist. Auch eine Silvesterfeier könnte mit anderen Rauschmitteln durchaus reizvoll sein. Nur wirst du halt größere Probleme bekommen, wenn du deinen Jahresausklang in einer Opiumhöhle begehen willst. Daher doch Alkohol.
Und ja, man kann auch auf einer Party völlig nüchtern bleiben.
“Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen” – (“Was nützt einem die Gesundheit, wenn man ansonsten ein Idiot ist?”)
Dieser Tweet verdient unbedingt eine Verewigung hier.