Erbloggtes
US-Senator und Tea-Party-Anhänger Rand Paul hat abgeschrieben. Da der hohe Stellenwert der Promotion in Deutschland gern als zentraler Grund für die Häufung in Doktorarbeiten plagiierender Politiker hierzulande angesehen wird, kann Paul natürlich nicht in einer wissenschaftlichen Arbeit abgeschrieben haben, sondern nur in einigen Reden und (mindestens) einem Buch. Entsprechend dem Titel des Buches (Government Bullies: How Everyday Americans are Being Harassed, Abused, and Imprisoned by the Feds) fordert Paul nun, dass man ihn bloß in Ruhe lassen soll. Er findet es wohl anmaßend, wenn ihm andere vorschreiben wollen, wie er seine politische Arbeit machen soll.
Dabei ist es doch ziemlich offensichtlich: Rechte Politiker im Spektrum zwischen Steinmeier und der Tea-Party verweigern in unterschiedlichem Maße das Selbstdenken, den von der Aufklärung geforderten eigenständigen Vernunftgebrauch. Es gehört ja geradezu zu ihren – durchaus unterschiedlichen – Programmen, dass der einzelne, kleine Mensch nicht zum Denken berufen sei:
Lass das Pferd sich kümmern, es hat ‘nen größ’ren Kopf.
— Cowboyweisheit
Mensch denkt. Gott lenkt.
— Katholikenweisheit
Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.
— Sozialdemokratenweisheit
Gemeinsam ist diesen Überzeugungen, dass ihre Vertreter sich ein Rechtfertigungsproblem einhandeln, warum denn gerade sie selbst nun zum Denken berufen sein sollten. Das wird öffentlich nicht thematisiert, es herrscht ja Meinungsfreiheit. Aber im Inneren der Selbstdenkverweigerer schwelt stets diese Frage als Selbstzweifel. Und der befriedigendste Ausweg lautet: Andere denken lassen, selbst nur nach-denken. Bei großem Zeitdruck muss zuweilen auch das Nach-Denken entfallen, übrig bleibt dann nur das Nachplappern des vom Ghostwriter Vorgeschriebenen.
Hampelmänner und -frauen, die nicht mal selbst zu denken wagen, sondern das nur vortäuschen und ehrfürchtig-mönchisch abschreiben, was die Alten sagten, haben klare Konkurrenzvorteile in der modernen Medienöffentlichkeit. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass sich diese Haltung ausbreitet, sondern müssen die, denen Plagiate nachgewiesen werden, schleunigst loswerden. Sonst leben wir bald wieder im finsteren Mittelalter.
Dierk
Tja, da hat sich also ein mäßig einflussreicher Politiker mit fremden Federn geschmückt. Nicht in seinem Fachgebiet, der Augenheilkunde, sondern im Genre der Polemik. Sie wissen schon, Polemik ist jenes literarische Genre, das die Politik durchdringt. Ein Genre, in dem das Verbiegen von Tatsachen, der Verkauf von Meinungen als Fakten und die Lüge an der Tagesordnung, ja, geradezu definierend sind.
Bis weit nach der Aufklärung war es für Autoren üblich, fremder Menschen Texte zu verwenden. Montaignes Essays strotzen nur so vor Zitaten, die er manchmal auch kenntlich macht – in den meisten Fällen geht er davon aus, dass sie seinen Lesern eh bekannt sind. Selbstverständlich entsprechen seine Zitate selten deutschem Zitatrecht; gibt er mal an, wessen Gedanken er übernimmt, diskutiert er nicht, sondern nutzt ihn direkt als Beweis. Trotz aller Versuche, z.B. durch Aristoteles, den Beweis nach Autorität als Fehlschluss zu sehen, war er lange der einzige, der galt: ‘Das hat ein ganz großer Geist gesagt, also ist das richtig.’
So ganz weg sind wir davon nicht. Für die meisten Wissenschaftler, speziell in den Natur- und Sozialwissenschaften, mögen Daten, Experimente, Beobachtungen, Logik wesentlich sein. Für die berüchtigte Person auf der Straße zählt das nicht. Einstein hat das gesagt? Dann muss es ja gut und richtig sein.
Seltsam an Pauls Vorgehen ist vor allem, dass er sich nicht auf die großen Geister beruft, sondern sich selbst als Urheber stehen lässt. So kann er weder das Autoritätsargument nutzen – Also bitte, Jefferson, Hamilton, der große Sklavenbefreier Lincoln! – noch sich später rausreden, dass der Blödsinn ja nicht auf seinem Mist gewachsen sei. Originalität ist immer gefährlich, Menschen verstehen sie möglicherweise nicht, oder man ist zwar originell, aber völlig an Realität und Rationalität vorbei. Kurz: Man kann sich auch irren.
Hat Isaac Newton eigentlich immer schön seine Quellen wiederfindbar zitiert? Oder reichte es ihm, irgendwann einen schönen Kalenderspruch über Riesenschultern abzugeben?
Rand Pauls Reden und Bücher sind keine Werke für die Ewigkeit. Sie sind nicht einmal Werke für diese Generation, sie sind Fast Food für 24/7-Nachrichtensender, für einige Wochen Füllmaterial für Bestsellerlisten, danach für Müllhalden. Den praktischen Nutzen vernünftigen Zitierens können wir hier gut vernachlässigen. Bleibt die moralische Frage.
Erbloggtes
Meinst du, “Bis weit nach der Aufklärung” galt es als nicht zu beanstanden, fremde Texte nicht nur zu verwenden, sondern auch so zu tun, als ob man sie selbst geschrieben hätte? Also im HistorioPlag Wiki finden sich schon ein paar Fälle, in denen Autoren auch schon vor der Aufklärung entdeckt, kritisiert und verhöhnt haben, wenn ihnen ein solches Verhalten auffiel.
Aber kommen wir gleich zur moralischen Frage: Inwiefern möchtest du Montaigne und Newton denn hier für ein Autoritätsargument heranziehen? Vielleicht ist so etwas ja auch Pauls Überlegung: ‘Na, wenn die das so gemacht haben und heute als große Geister gelten, dann mache ich das auch, und später denken alle, ich wäre ein Genie gewesen *gnihihihi*.’ Ich bin nicht der Ansicht, dass es zur moralischen Rechtfertigung von Handlungen ausreicht, sich darauf zu berufen, dass jemand (und sei es ein Vorbild) dasselbe getan habe. Es ist ja in der Regel nicht mal klar, was das Vorbild genau getan hat: Montaigne hat deiner Schilderung nach nicht so getan, als stamme das Übernommene von ihm selbst.
Lass mich aber das permanente Autoritätsargument durch stete Quellenangabe nochmal kurz verteidigen: Indem man sagt, wo man etwas her hat, macht man sich konkreter angreifbar als durch das Verschweigen der Quelle. (Würde ich das jetzt so stehen lassen, wäre es damit performativ “bewiesen”. Aber halt! Auch indem ich jetzt begründe, wie ich zu dieser Aussage komme, demonstriere ich, dass ich sie dadurch kritisierbar und hinterfragbar mache. Also gut…) Statt eine apodiktische Behauptung, einem Dogma gleich, zu präsentieren, zeige ich durch Quellenangaben ebenso wie durch Begründungen an, dass das Publikum (ebenso wie ich) selbst denken kann. Ich drücke auch aus, dass ich bereit bin, meine Aussagen einer kritischen Prüfung unterziehen zu lassen, für die Begründungen und Herkunftsangaben natürlich von großer Bedeutung sind. Wir nutzen Herkunftskenntnisse ständig, um Aussagen einer oberflächlichen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen, beispielsweise indem wir einschätzen, ob sich in einer angegebenen Quelle valide Begründungen finden lassen. Wenn du noch Fragen hast, stell sie ruhig: Ich bin gern bereit, meine Aussagen einer kritischen Prüfung unterziehen zu lassen.
Dierk
Wer möchte denn im Genre Polemik überprüft werden? Da werden durchaus schon mal Zitate erfunden – einer jener Fälle, in denen gerne eine Quelle angegeben wird, die sich dann als falsch herausstellt. Und wer möchte politische Reden und Bücher überprüfen, außer dem politischen Gegner? Es ist sogar noch schlimmer: Niemand möchte wissen, ob da die Wahrheit geprochen wird oder nicht. Anders ist die beinhahe vollständige Ignoranz gegen nachgewiesenen oder vom Autor zugegebenen Unsinn nicht zu erklären.
Thilo Sarrazin hat selbst irgendwo zugestanden, dass er sich dort, wo Erhebungen fehlten, Zahlen ausdachte, weil sie so gut zu den Thesen passten . Interessiert hat es nur die, die seine Idiotien sowieso schon für üblen Quatsch hielten. Seine für einen Publikumstitel extensive Verfußnotung macht weder die faktische Seite seines Machwerks richtiger noch die moralische besser.
Wenn ich dich richtig verstehe, ist Plagiieren ein schwerwiegendes Vergehen, das zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen sollte. In der Wissenschaft ist das gut nachvollziehbar, da Originalität hier bare Münze ist, sie ist ihre Währung. Aber ist Originalität – im Sinne ‘was ganz Neues entdeckt und veröffentlicht’ – auch in der Literatur wesentlich? Nein, hier ist Kreativität wichtiger, die Frage, wie schlägt ein Autor aus Altbekanntem neue Funken. Da setzt ein Schriftsteller von Format schon mal ein oder zwei oder sogar noch mehr Absätze aus einem Lexikonartikel oder einem Reiseführer ein, um Detailgenauigkeit zu evozieren, wo ihm die Fakten aus eigener Anschauung fehlen. Karl May hat das ebenso gemacht wie Walter Kempowski. Bei Shakespeare finden sich Passagen, die so dicht an Montaigne dran sind, dass wir daher davon ausgehen, ersterer hat letzteren gelesen.
Das sind alles keine Ausnahmen, zu jeder Zeit haben Schriftsteller gänzlich unterschiedlicher Art und Qualität abgeschrieben. Karl Kraus hat kaum eine Zeile der Letzten Tage der Menschheit selbst geschrieben; einzige Quellenangabe: Das ist alles wirklich geschehen. Teile der Postmoderne sehen die Collage, das Zerschneiden fremder Texte und deren Neuzusammensetzung, als wesentlich für Literatur. Ein absolutes Kriterium ‘Plagiat = geht gar nicht’ gibt es zumindest praktisch nicht. Es bleibt beschränkt auf den Kontext, in dem plagiiert wird, und den Einzelfall.
Speziell in der Polemik gilt dann, ob die ursprünglichen Schöpfer sich gegen die Verwendung wehren, wie es bei Sarrazin passiert ist, ob sie sich mit den Polemikern gemein machen oder ob sie lieber verschweigen, dass sie hinter möglichem Blödsinn stecken.
Erbloggtes
Glaubwürdigkeit. Literaten sind nicht darauf angewiesen, dass man ihnen die Inhalte glaubt, von denen sie berichten. Authentizität spielt deshalb in einem ganz anderen Sinne eine Rolle als bei Politikern oder Wissenschaftlern. Es ist für den Lesegenuss irrelevant, ob Umberto Eco wirklich eine mittelalterliche Handschrift vorlag, wie er im Vorwort von Der Name der Rose berichtet, oder ob dieser Rahmen ebenso fiktiv ist wie die Kriminalgeschichte. Wenn man Politik auf Polemik reduziert und davon ausgeht, dass das Publikum belogen werden will, und dass die Hauptsache ist, wie eindrucksvoll das geschieht, dann gilt dasselbe, was für Literaten gilt, auch für Politiker: Ihr Text muss nur glaubhaft sein, nicht glaubwürdig.
Was ist der Unterschied? Offenbar reicht es zur Unterscheidung nicht aus, empirisch festzustellen, wie viel Prozent des Publikums durch einen Text überzeugt werden. Es sind vielmehr innere Eigenschaften des Textes, die ihn glaubwürdig machen, etwa Belegtheit und Wahrhaftigkeit. Diese inneren Eigenschaften sind aber nicht an äußeren Eigenschaften wie Fußnoten oder der Verwendung von Formeln wie “ich bin überzeugt, dass” ablesbar. Allerdings sind manchmal starke Indizien dafür zu finden, dass ein Text nicht glaubwürdig ist: Wenn die Fußnoten gefälscht sind, wenn die angegebenen Daten erfunden sind, oder wenn er plagiiert ist. Der Plagiator denkt das, was er abschreibt, gar nicht wirklich (innere Texteigenschaft), sondern er glaubt, dass es seine Wirkung nicht verfehlt (äußere Texteigenschaft).
Plagiierende Politiker müssen nicht zurücktreten, weil sie sich ohne Doktortitel nicht mehr als kompetent ausweisen können, sondern weil sie ein Publikum, das klar von Wahrhaftigkeit ausgeht, nämlich die wissenschaftlichen Leser, um des Effektes willen skrupellos getäuscht haben.
Dierk
D’accord, spielt ein Politiker in einem Fachgebiet den Wissenschaftler, hat er sich an die dort geltenden Regeln zu halten. Er muss denjenigen den Ruhm zuteil werden lassen, denen er gehört, und darf sich nicht bequem und ungefragt deren Leistungen zurechnen. Der Rücktritt hat dabei weder mit der wissenschaftlichen noch mit der politischen Leistung etwas zu tun, sondern mit der grundsätzlichen Bereitschaft, andere zu betrügen.
Zwar erwarten wir, von einem Politiker in politischen Fragen hinters Licht geführt zu werden, aber eben nur in politischen Fragen, nicht in wissenschaftlichen. Allerdings hat bisher niemand Rand Paul vorgeworfen, außerhalb des Politbetriebs und der literarischen Genres eben dieses Betriebes, anderer Menschen geistige Arbeit benutzt zu haben. Zumindest nicht über das Maß hinaus, das üblich ist: Ghostwriter, unterstützende Journalistin, kreative Sekretäre, Mitarbeiter, Assistentinnen etc.
Wie sieht es mit der Urheberschaft eines Ghostwriters aus? Er kann sie weder verschenken noch verkaufen, aber sein Vertrag basiert explizit darauf, einem anderen die Urheberschaft eines Textes anzudichten.
Erbloggtes
Unterschieden haben wir nun zumindest zwischen Literaten und Wissenschaftlern. Die einen dürfen remixen, die anderen nicht. Der tiefere Grund scheint mir zu sein, dass es hier um Unterhaltung geht, dort um Erkenntnis. Wenn das so ist, dann kommt es darauf an, welcher dieser beiden Sphären wir andere Tätigkeiten zuordnen: Politik, meinst du, sei wesentlich Polemik, und damit der Literatur zuzuordnen. Da bin ich anderer Ansicht, denn mit Polemik kann man nur so tun, als ob man dicke Bretter bohren würde (nur so tun, als ob es nicht um Unterhaltung ginge, nur so tun, als ob sich etwas bewege, nur so tun, als ob). Das kann man Politikfiktion oder Politiksimulation nennen, mir reicht das aber nicht als Politikbegriff.
Vielleicht etwas Einfacheres als Politik: Blogs. Wie muss man denn da seine Quellen offenlegen? Das fragt sich Ali Arbia hier angesichts aus dem Vollen schöpfender Scienceblogs. Du schaffst ja eher Kunst, selbst wenn du über Wissenschaftsplagiate bloggst. Ich hingegen mache meist ganz viele Quellenangaben in meine Artikel und verspüre den Drang, mich zu rechtfertigen, wenn ich mal eine Quellenangabe nicht machen kann. Vielleicht verfolgen wir gegensätzliche Beglaubigungsstrategien?
…weil sie ein Publikum, das klar von Wahrhaftigkeit ausgeht (…), um des Effektes willen skrupellos getäuscht haben.
Das scheint mir der Kernpunkt zu sein. Ein Beispiel für ein solches Täuschungsmanöver in einem nicht-wissenschaftlichen Kontext ist die falsche Marathonbestzeit, mit der Rand Pauls Bruder im Geiste Paul Ryan prahlte. Als die Geschichte vor einem Jahr aufflog, hatten es passionierte Läufer allerdings ebenso schwer, dem Rest der Menschheit zu vermitteln, daß es sich nicht um ein “Versehen” handelte, wie Wissenschaftler, die sich gegen die Verharmlosung von Plagiaten als “Schummelei” wehren.
P. S. Das Sarrazin-Zitat ist mit Quellenangabe im Wikipedia-Artikel zu finden.
Der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz, kritisierte, vieles von dem, was Sarrazin behauptete, sei statistisch nicht belegbar, und nannte als Beispiel die These, dass 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins den Staat ablehnten und in großen Teilen weder integrationswillig noch integrationsfähig seien. Konfrontiert mit dieser Kritik äußerte Sarrazin einem SZ-Reporter gegenüber, wenn man keine Zahl habe, dann müsse „man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist. Und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Sarrazin