Jan Falk
Am vergangenen Freitag war im Bundestag die Abstimmung über das allseits beliebte Leistungsschutzrecht (LSR), das die kommerzielle, automatisierte Darstellung von kleinen journalistischen Textstücken im Netz durch Suchmaschinen neu regelt. Kritiker meinen, das Gesetz schaffe Rechtsunsicherheit auch für Blogger und sei ein Geschenk an die Verlegerlobby. Hier und heute soll es aber eher um das parlamentarische Verfahren der Abstimmung und nicht den Inhalt des LSR gehen.
Ich hatte mit Erbloggtes dazu am Freitag einen kurzen Austausch auf Twitter, doch im Grunde weiß ich gar nicht, ob wir wirklich verschiedener Meinung sind.
Muhaha! twitter.com/larsklingbeil/… Welche Krankheit befiel denn Gabriel, Nahles, Erler, Thierse, Trittin, Roth, Göring-Eckardt & Co. zugleich?
— Erbloggtes (@Erbloggtes) 2. März 2013
@falkjan Schon gesehen: twitter.com/Erbloggtes/sta… ? Die Kranheitsbehauptung wird durch eine den Akteuren(!) unbekannte Tradition nicht besser.
— Erbloggtes (@Erbloggtes) 2. März 2013
Worum es geht ist folgendes: Das Gesetzt wurde mit den Stimmen der Regierungskoalition und gegen SPD, Grüne und Linkspartei beschlossen, und zwar 293 zu 243. Allerdings, und das ist der Knackpunkt, mit 52 nicht abgegebenen Stimmen der Opposition. Mit dabei: Bartels, Erler, Gabriel, Nahles, Schreiner, Thierse und andere. Rein rechnerisch hätte die Opposition also das Gesetz kippen können, wenn nur alle Parlamentarier an der Abstimmung teilgenommen hätten. So schrieb etwa Wolfgang Michal:
“Das Leistungsschutzrecht wurde nur deshalb im Bundestag verabschiedet, weil sich die Partei-Prominenz aus SPD, Grünen und Linken nicht an der Abstimmung beteiligte […] Es fehlten die Parteivorsitzenden. Also jene Wahlkämpfer, die eine gute (Springer-) Presse brauchen.”
Das Argument ist also: SPD und Grüne hätten das Gesetz verhindern können, wenn sie wirklich gewollt hätten, doch aus Feigheit oder politischem Kalkül sei dieses nicht geschehen. Aber stimmt das? Eher nicht.
Bei vielen kleineren Gesetzen (und dazu zähle ich das LSR, aber da mag man anderer Meinung sein), wird ja das Pairing-Prinzip angewandt. Dadurch wird sichergestellt, dass auch bei nicht vollem Plenum die Regierungskoalition eine Mehrheit sicher stellen und ihre Gesetze durchbringen kann. Ob Pairing in diesem Falle angewandt wurde, scheint jedoch selbst unter den Parlamentariern umstritten: Nach Auskunft der Linken-Abgeordneten Petra Sitte gab es keine Verabredung, laut Volker Beck gab es doch eine.
Wie dem auch sei, am Freitag hieß es relativ übereinstimmend von Abgeordneten, die Koalition hätte auf jeden Fall für eine Mehrheit sorgen können. Nun mag es eine ganz interessante Frage sein, wer warum nicht an der Abstimmung teilgenommen hat. Aber mal wieder Roten und Grünen die Schuld an einem Gesetz zu geben, das die Regierung durchgebracht hat, ist typisch für unsere durch und durch zynische Bloggosphäre. Das war vor einigen Monaten beim Meldegesetz auch schon ähnlich.
Der Bundestag hat intern Verfahren und Regeln, so hab ich den Eindruck, die im parlamentarischen Alltag durchaus konsistent sind, wie etwa Fraktionszwang und Pairing. Über die lässt sich sicher streiten, sie haben so ihre Vor- und Nachteile (wozu diese Debatte vielleicht eine gute Gelegenheit böte).
Wo ich bei dieser Episode eher folgendes Problem sehe: Nach außen kommuniziert werden diese Verfahren meist ziemlich dürftig, so dass selbst Politikinteressierte die Abläufe im Parlament oft völlig falsch interpretieren. Das führt zu noch größerem Zynismus gegenüber der Politik, als ohnehin schon in der Wählerschaft vorhanden. Auf die zunehmenden Transparenzforderungen der Bürger müssen Parlament und Medien irgendwie reagieren.
jhermes
Danke unserem Gast für die klare Darstellung des Pairing-Verfahrens. Ich musste mir doch am Tag der LSR-Abstimmung gleich ein paarmal an den Kopf fassen, als auf Twitter die immer gleiche simple Rechnung präsentiert wurde, dass das LSR hätte verhindert werden können, wären doch nur alle Parlamentarier der Opposition bereit gewesen, an der Abstimmung teilzunehmen. Da ist das Empörungspotential natürlich groß, es ging ja schließlich um das schlimme Leistungsschutzrecht. Von dem weiß zwar niemand genau, worauf es nach den letzten Änderungen angewendet werden kann – aber das ist ja erstmal egal, geht es doch wahrscheinlich zu Lasten der Netzgemeinde.
Ob die Empörer sich wirklich gedacht haben, dass an allen Abstimmungen des Bundestages immer alle Parlamentarier teilnehmen? Das ist doch nun wirklich schwer vorstellbar, wenn man sich die Pläne von manchen Sitzungswochen anschaut. Tatsächlich gibt es solche Abstimmungen, wo Parlamentarier auch vom Krankenbett weg in den Plenarsaal geschoben oder eigens aus fernen Ländern eingeflogen werden. Ich meine, eine solche war damals, als Schröder (ja, so hieß zwischendurch mal ein Kanzler) die Abstimmung über den Einsatz in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verband. Da gab es im Kreise der damaligen rot-grünen Koalition Abweichler, die Opposition sah die Möglichkeit, dass dem Kanzler das Vertrauen entzogen werden könnte. Die Koalition mobilisierte letztlich aber alle Angehörigen, vier durften abweichen, Schröder blieb erstmal Kanzler. Wegen dem LSR wurde jetzt halt nicht so ein Bohei gemacht.
Erbloggtes
Ach Jürgen, wenn es darum geht, ob Schröder Kanzler bleibt oder nicht, dann müssen Lahme gehen und Blinde sehen – ob Deutschland einen Angriffskrieg am Hindukusch führen soll, da reicht es hingegen im Zweifelsfall, wenn aus einem Häuflein Abgeordneten die einfache Mehrheit dafür stimmt? Eine Vertrauensfrage hat nichts mit der LSR-Abstimmung zu tun, auch wenn es hier ebenfalls Abweichler auf Regierungsseite gab. Und sie ist ein verwerfliches machtpolitisches Mittel der deutschen Kanzlerdemokratie, insbesondere bei so skrupellosem Missbrauch wie durch Schröder. Bismarck hätte seine Freude dran gehabt.
Dass Bürger parlamentarische Abläufe nachvollziehen können, worauf Jan gerade hingewiesen hat, das ist hingegen eine notwendige Bedingung dafür, dass sich die Bürger selbst als Autoren der Gesetze verstehen können. Damit ist es eine grundlegende Anforderung an eine Demokratie. Besonders herausgefordert ist dieses Selbstverständnis des Souveräns als Gesetzesautor natürlich in Zeiten, in denen die Gesetzestexte tatsächlich von Lobbyagenturen verfasst werden. Solche parlamentarischen Verfahren, wie sie hier in Frage stehen, kann man nicht in der Schule lernen. Sonst gäbe es auch unter Abgeordneten keine Unklarheit darüber, ob denn in diesem Fall etwas wie Pairing vorlag. Ein generelles Pairing-Prinzip (“Fehlt einer von euch, dann geht auch einer von uns nach Hause.”), wie Du sagst, Jan, gibt es offenbar nicht. Sonst würde davon jeder Abgeordnete wissen, schließlich könnte er regelmäßig zu Hause bleiben. Ein allgemeines Pairing-Verfahren, wie Jürgen meint, scheint auch nicht etabliert genug zu sein, um etwa dem MdB Lars Klingbeil von der SPD bekannt zu sein. Was eine Pairing-Vereinbarung ist, dazu erklärt der Parlamentarische Geschäftsführer (PGF) der Grünen, Volker Beck, nochmal etwas ganz Neues, nämlich dass eine solche Vereinbarung gar nicht zwischen Regierungskoalition und Opposition geschlossen wird:
@tralamitti Pairing ist i.d.R. ein Vertrag zwischen 2 MdBs mit Gegenzeichnung der PGFs über Nichtteilnahme für bestimmte Abstimmungen/Zeiten
— Volker Beck (@Volker_Beck) 2. März 2013
Aber nach meinem Eindruck entstammen die angesprochenen informellen Gepflogenheiten der Parlamentarismus-Praxis einer anderen Epoche. Die Beharrungskräfte sind groß, aber diese Praktiken müssen dringend auf ihre Gegenwartstauglichkeit überprüft und – vermutlich größtenteils – über Bord geworfen werden. A propos Seefahrts-Metaphern: Da wären wir dann auch gleich bei den Piraten, die mal den Eindruck erweckt haben, sie würden, wenn man sie wählt, eingeschliffene Praktiken hinterfragen. Sie wollten beispielsweise lieber 15 Dienstfahrräder für die Fraktion statt eines Dienstwagens für den Vorsitzenden.
Jedenfalls würde ich es für sinnvoll halten, wenn statt Gemauschel Transparenz über die Bedingungen Einzug halten würde, unter denen Abstimmungen stattfinden. Offensichtlich interessieren solche Fragen ja eine nicht verschwindend kleine Gruppe von Bürgern. Aber wenn die Medien stets personalisierend berichten statt über Strukturen, dann bleibt dem Publikum nichts anderes übrig, als personalisierend von Gemauschel auszugehen.
Jan Falk
Erstmal noch, was ich oben vergessen hatte, vielen Dank an die erlauchte Kneipenrunde für die Einladung zur Debatte. Aber zum Thema. Interessant, Erbloggtes, dass Du die Piraten erwähnst. Die stehen ja nicht nur für Dienstfahrräder, sondern für ein viel weiter reichendes Reformprogramm des Parlamentarismus. Im Grunde würden sie den Bundestag sogar gerne abschaffen und durch direktere Mitbestimmungsformen wie Liquid Feedback ersetzen. Eine Idee, die übrigens so voraussetzungsreich ist, dass selbst Marina Weisband neulich in einem Spiegel-Interview einräumen musste, erst eine viel aufgeklärtere und gebildetere Gesellschaft könne sie verwirklichen. Der erst nötige Bewusstseinswandel für die wahrhaft demokratische Gesellschaft. Mhhh… woran erinnert mich das?
Bleiben wir lieber mal mal bei konkreten, realistischen Reformen des Parlaments. Mir scheint, ich vertrete hier den vorsichtigsten Ansatz. Ich wünsche mir, dass das Parlament wieder zu dem Ort der Deliberation der deutschen Politik wird (was zur Zeit eher die Talkshows auf der ARD zu sein scheinen) und dass dabei Glaubwürdigkeit so weit hergestellt wird, dass ein grundsätzliches Vertrauen in den Parlamentarismus sichergestellt wird. Dafür bedarf es mehr Offenheit und mehr Berichterstattung (und, aber das kann ja niemand mal eben herbeizaubern, charismatischer und kluger Politiker und echter inhaltlicher Alternativen).
Erbloggtes, wenn ich Dich richtig verstehe, würdest Du weiter gehen und die Verfahren im Parlament selbst infrage stellen, also etwa den Fraktionszwang. Dafür spricht sicher auch einiges, aber ich möchte hier auf die USA als cautionary tale verweisen. Verschiedene Funktionsweisen von Parlamenten haben immer Vor- und Nachteile, nur sieht man halt eher die Nachteile der derzeit ausgeübten Form im eigenen Land.
Würde man etwa den Fraktionszwang grundsätzlich aufheben, wären die outcomes im Bundestag nicht so vorhersehbar und die Parlamentarier müssten größere Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen. So viel zu den Pros. Aber: Wer sich den Congress in Washington anschaut, sieht, zu welchem Kuhhandel jedes einzelne Gesetz führen kann. Mehrheiten müssen jedesmal mühsam zusammengesucht und -gekauft werden. Und das war übrigens schon immer so, wie der Film Lincoln jetzt nochmal schön gezeigt hat. Weniger Gemauschel wäre das sicher nicht.
Dies nur mal als Beispiel, warum man bei allem Ärger über die Berliner Politik bei weitreichenden Reformen des Parlamentsbetriebs lieber zweimal nachdenken sollte.
Das Problem ist, dass der Bundestag genauso wie andere politische Institutionen schlecht skaliert. Schaut man sich die Bandbreite der zu beschließenden Themen an, kann kein Abgeordneter von allen Ahnung haben. Ob Netzpolitik, der Ausbau von Wasserwegen, die Umsetzung von EU-Regulierungen für die chemische Industrie, Lebensmittelsicherheit oder Steuerpolitik, das kann keiner wirklich in allen Details erfassen. Und die erstaunlich kleinen Mitarbeiterstäber der Abgeordneten können das auch nicht.
Gleichzeitig ist die Arbeitsbelastung des gemeinen Abgeordneten auch enorm: Neben den Bundestagssitzungen gibt es noch diverse Ausschüsse. Man muss im Wahlkreis präsent sein, sonst fliegt man schnell wieder aus dem Parlament. Man muss in der Partei aktiv sein, sonst fliegt man von den Listenplätzen. Dazu kommen dann noch Fernsehauftritte, Vorträge, repräsentative Funktionen und so weiter. Im Prinzip ist dieses Pairing nur ein schmutziger Hack, damit das Parlament überhaupt noch funktioniert.
Trotzdem ist es natürlich nicht so, dass die Opposition jetzt Schuld am LSR trägt. Die liegt ganz klar bei den Parteien, die es ins Parlament eingebracht haben und mit deren Stimmen es beschlossen wurde. Und man sollte diese auch nicht für komplett bescheuert halten: Es fällt auf, wenn zu viele Oppositionsabgeordnete im Plenarsaal sind und dann können Union & FDP auch schnell weitere Abgeordnete herbeirufen.
Stimmt, Fraktionszwang und Pairing gehören in den Bereich der “politischen Kultur”, sind also Konventionen, die im Einvernehmen oder auch nur von einer Seite aufgekündigt werden könnten. Nur, sind solche Konventionen einmal abgeschliffen, bekommen man sie schwer wieder zurück.
Wieder Beispiel USA: Der Filibuster wurde noch bis in die 80er, 90er Jahre nur in ganz seltenen Fällen genutzt, um Gesetze auch gegen eine Mehrheit aufzuhalten oder zu verhindern. Heute filibustern die Republikaner einfach alles im Senat, bis hin zur kleinsten Besetzung von Ministerien. Und das, obwohl sich an den Regeln im Senat im Grunde nichts wesentliches geändert hat. Es ist nur die Konvention geschliffen worden.
Im Bundestag etwa ist es ja normal, hin und wieder dazwischenzurufen. Was aber, wenn sich eine Fraktion nun entschlösse, permanent Reden zu stören? Möglich wäre es vielleicht und doch würde man es als Degeneration der politischen Kultur begreifen.
Der Fraktionszwang ist aber natürlich eine andere Sache, man könnte seine Abschaffung auch als Gewinn betrachten. (Der Fraktionszwang ist übrigens nicht verfassungswidrig. Denn es ist ja gar nicht wirklich ein Zwang. Nur indirekt, durch schlechtere Listenplätze etwa, wird ein Bruch geahndet. )
Die Regelung hat aber übrigens auch positive Seiten: Sie reduziert Komplexität. Denn in DE wählen wir ja Parteien (und Listen), und indem diese oft relativ geschlossen abstimmen, weiß der Wähler, was er hinter bekommt, wenn er sein Kreuzchen macht.
Was meiner Meinung nach für eine Abschaffung sprechen würde, wäre, wie schon oben erwähnt, dass der Bundestag weniger erwartbar abstimmen würde. Denn jetzt geht es ja meist nur um ein Abnicken der Gesetzesentwürfe der Regierung (bzw. einschließlich vorheriger Modifizierung im Hinterzimmer durch die Regierungsfraktionen).
Und dadurch entsteht dann eben der Eindruck, dass eigentlich inhaltlich nichts auf dem Spiel steht, die Reden nur zur Protokoll gegeben werden, ohne irgend eine echte Deliberation. Das macht das Parlament unspannend (unter einer Nachrichtenwert-Perspektive).
Also ich bitte mal festzuhalten, dass weder Pairing noch Fraktionszwang in Deutschland mehr sein können als eine freiwillige Selbstverpflichtung, die man jederzeit über Bord werfen kann. Denn Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes erklärt: “Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages [...] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.” Das ist – anders als im Rätesystem – ein Grundpfeiler des Parlamentarismus.
Anders als die üblichen Koalitionsverträge, die verfassungswidrig einen Fraktionszwang postulieren und damit als Verträge nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind (nur wenn man mal zu Wahlkampfzeiten Versprechungen an die Verlegerlobby erfüllen will, führt man den Koalitionsvertrag als Begründung an), haben die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus in ihre Fraktionssatzung einen Satz geschrieben, der eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, da er ja aus dem Grundgesetz hervorgeht: “Die Fraktionsmitglieder sind in der Wahrnehmung ihres freien Mandates nicht an Mehrheitsentscheidungen oder Weisungen gebunden”.[1]
Ich finde ja nicht, dass es eine übertriebene oder gar gefährliche Forderung ist, dass sich Parteien und Abgeordnete an das Grundgesetz halten sollten. Korruption von Abgeordneten (wie im Film “Lincoln”) wird in Deutschland ja nicht durch Fraktionszwang ausgeschlossen. Vielmehr werden Abgeordnete davon abgehalten, sich zu überlegen, was ihr Gewissen zu einem Thema sagt, wenn ihre Vorannahme lautet, dass die Partei, die Partei immer Recht hat.