Geschichten werden gemacht

jhermesjhermes
 Drüben am Debattiertisch, wo gerade über die Angst vor Handystrahlung geredet wurde, griff Dierk den interessanten Aspekt auf, dass Desinformation oftmals durch gute, aber erfundene Geschichten unters Volk gebracht wird. Den Gedanken aufzugreifen, hätte ein wenig vom ursprünglichen Gesprächsthema weggeführt, deswegen zog ich ihn rüber zu einem Nebentisch.

Dierk sagte “Wir lieben Geschichten – [...] Genau das nutzen die Eso-Schlabbersäcke aus, sie erfinden schöne Märchen.” Das ist einerseits eine gute Bestandsaufnahme, andererseits sollte uns aber doch auch genau dies antreiben, die besseren Geschichten zu schreiben. Ja, es ist schwierig, weil die Welt so komplex und die von [Esoterikern, Verschwörungstheoretikern, Alternativmedizinern, beliebige Schlabbersackgemeinschaft einfügen] angebotenen Lösungen so einfach wie falsch sind. Müssen wir uns halt anstrengen, wenn wir die Butter nicht vom Brot genommen bekommen wollen. Dazu sind wir ja vielleicht auch hier, im Kneipenlog.

Dierk HaasisDierk
 Sicherlich müssen wir uns mehr anstrengen. Ich fürchte allerdings, dass es kurz- und mittelfristig kaum etwas nützt. Geschichten folgen bestimmten Strukturen, Rezipienten erwarten bestimmte Figurenkonstellationen. Es gibt keine Geschichten ohne Konflikt, mag dieser auch noch so innerlich oder trivial sein. Selbst in unserem Alltag bauen wir uns eine Welt aus Guten [wir] und Bösen [Nachbar; der Typ in dem BMW, der gerade sehr knapp vor mir rein ist; der Hausmeister ...].

Auch immer gerne genommen, ist die Geschichte vom kleinen Mann, der sich gegen die Großen durchsetzt. David gegen Goliath – wobei Goliath immer die Anderen sind, die Industrie sowieso, die Regierung, die Wissenschaft[ler]. Man selbst ist immer Jerry, nie Tom.

Immerhin lassen mich die Atombombenhysteriefilme der 1950er vermuten, dass die Menschen langfristig umdenken.

jhermesjhermes
Völlig richtig, es läuft immer auf wir und die hinaus. Die Kunst ist dann ja gerade, dem Zuhörer/Leser zu vermitteln, dass es durchaus seinen Reiz hat, auf der Gegenseite der Sippschaft der Verschwörungstheoretiker, Alternativmedizinermafia, Strahlungsangsthorde zu stehen. Ein Paradebeispiel dafür ist Umberto Ecos Foucaultsches Pendel: Verschwörer (denen die drei Helden dann auch zum Opfer fallen) sind lediglich diejenigen, welche eine viel größerere Verschwörung (Bilderberger, Rosenkreuzer, Templer, was auch immer) vermuten. Damit wird der Verschwörungstheoretiker Tom, sein Spötter Jerry.

ErbloggtesErbloggtes
Schön, dass Ihr das nochmal ansprecht. Seriöse Wissenschaftler haben ja (zu Recht) eine Scheu, Geschichten zu erfinden, um ihre Position zu promoten. Denn Geschichten legen gewisse Drehs und Assoziationen nahe, die mit Theorie und Empirie wissenschaftlicher Ergebnisse nichts zu tun haben müssen. Wahrscheinlich könnte man sich auch selbst etwas vormachen, wenn man eine plausible Geschichte hat und die eigenen Forschungsergebnisse in ihrem Licht betrachtet.

Erzählerische Kategorien der Geschichtswissenschaft nach Hayden White

Erzählerische Kategorien der Geschichtswissenschaft nach Hayden White. Quelle: Wikipedia

Ganz anders in der Geschichtswissenschaft: Eine postmoderne Strömung dort basiert auf dem Gedanken, dass Geschichte, auch wissenschaftliche, immer Geschichten erzählt. Konservative Historiker lehnen das meist ab. Aber gerade in der Geschichtswissenschaft besitzt die Idee, dass dargestellte Forschungsergebnisse im Wesentlichen Erzählungen sind, eine gewisse Überzeugungskraft. Wenn man die Geschichtsschreibung literaturtheoretisch untersucht, kann man auch bestimmte Kategorien von Geschichten bilden, so wie in der Tabelle rechts. Es wäre auch denkbar, dass sich die Darstellungen anderer Wissenschaften in diese Kategorien eingruppieren ließen.

Dierk HaasisDierk
Vorsicht, während die historischen Wissenschaften – u.a. Hagiografie und Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, in Grenzen auch die Biologie – geradezu von Geschichten leben, die sie um eine dünne Faktenlage voller wahrhafter, gelogener, persönlicher und damit eingeschränkter Sichtweisen spinnen, bauen die so genannten hard sciences auf empirisch prüfbare Indizien. Und davon gibt eher nicht zu wenig, sondern zu viel. Genau das machen sich ja Verschwörungshansel zunutze.

Darauf fallen dann ja auch immer wieder Menschen rein, die eigentlich das nötige Handwerkszeug haben. Ich erinnere hier an Arthur Conan Doyle und sein Abdriften in die Spiritualität samt vehementer Verteidigung der albernsten und offensichtlichsten Bildmanipulation ever. Oder Michael Crichton, der mit The Andromeda Strain ein Musterbeispiel für eine Geschichte basierend auf Wissenschaft und ohne simples Gut-Böse-Schema schaffte; später vertrat er Klimawandelleugnerpositionen. Von all den Physikern ganz zu schweigen, die in hohem Alter ganz besonders metaphysisch wurden.

ErbloggtesErbloggtes
Der zentrale Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ist doch nicht die Dichte der Fakten, und nicht ob sie wahrhaft, gelogen oder prüfbar sind, sondern der Punkt wo man damit hinwill: Zum Naturgesetz – oder zum Einzelfall. Das Faktum (lat. für Gemachtes) ist für geschichtenerzählende Fächer bereits ein Baustein zu einer Geschichte. Für gesetzessuchende Fächer ist es ein Baustein, zu dem man noch viele andere Bausteine suchen muss, bevor man zu erzählen anfangen kann. Aber in der Praxis der Wissenschafts-PR erzählt man eben schon mal drauf los, was eine einzelne Messung bedeuten könnte.

Dierk HaasisDierk
Wenn wir sophistisch werden, darf ich dann mein Gemachtes gegen ein Gegebenes eintauschen? Als ich ‘Fakten’ schrieb, ging es mir selbstverständlich um die heute übliche Bedeutung, wie sie z.B. in Krimis verwendet wird. Jesus Christus – um bei Weihnachten zu verweilen – ist sicher kein Fakt vergleichbar der Dichte von Wasser, auch wenn ein Mythos für Literatur-, Geschichts- und Sozialwissenschaftler mindestens so viel Auswirkung hat wie ein Fakt. Das war aber genau der Punkt, an dem wir anfingen.

jhermesjhermes
Da startet man eine Diskussion, geht aufs Klo, kommt wieder und wundert sich, wo das Ganze jetzt wieder hingelaufen ist. Aber was will man erwarten, wenn sich zu zwei Geisteswissenschaftlern noch ein dritter gesellt?

Ich denke, man muss hier unterscheiden zwischen der Kommunikation innerhalb einer Fachwissenschaft und der Kommunikation einer Fachwissenschaft nach außen. Die erste Art ist interessant, findet aber – berechtigt oder nicht – zum überwiegenden Teil innerhalb des Elfenbeinturms statt, eben dort, wo die Spezialisten sitzen (Darein fällt auch das, worüber sich Erbloggtes und Dierk unterhalten haben – dabei hätten postmoderne Geschichtswissenschaft und senile alte Männer sicherlich auch einen eigenen Tisch verdient). Die Vermittlung der Erkenntnisse nach außen – und ich meine jetzt nicht nur das wissenschaftsaffine Publikum – aber bedarf eben Geschichten, bei denen “erfunden” nicht bedeutet, dass neue Fakten geschaffen werden, sondern dass man eine dem Publikum angemessene Vermittlungstechnik erdenkt. Das muss nicht unbedingt im Kneipenlog sein, wenngleich dieses einen guten Kontrapunkt zum Elfenbeinturm hergibt.  

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9 Kommentare zu Geschichten werden gemacht

  1. Quantenwelt sagt:

    …und was Dierk gleich zu Anfang sagt: Der kleine Alternativ-David, der gegen Pharma-Goliath antritt ist einfach eine zu gute Geschichte.

  2. Quantenwelt sagt:

    Die Frage ist doch, welche Art von Geschichten wir erzählen wollen.

    Klar können wir die Geschichten von Menschen erzählen, aber der Fall das einige wenige Menschen monatelang mit der Wahrheit ringen und endlich zum Durchbruch kommen, ist sehr selten. Gerade im Gebiet der Medizin, wo sich so viel Pseudowissenschaft herumtreibt. Dort sind die tatsächlichen Entdeckungsgeschichten eher langatmig und träge. Und es mangelt ihnen oft an klaren Heldinnen oder Helden.

    Was ich eher im Sinne hatte, war das Märchen von dem perfekten Menschlichen Immunsystem, das die Evolution zu Krone der Schöpfung entwickelt hat und das heroisch jede Krankheit bekämpfen kann, wenn die Person nur ausreichend Selbstheilungskräfte aktiviert und mit sich und der bambifizierten Natur im Gleichgewicht ist. Dieser Geschichte hat die naturwissenschaftliche Medizin wenig entgegenzusetzen. Und die evidenzbasierte schon gar nicht.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Der Ausgangspunkt war doch, wie man dem Publikum den Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft vermittelt, damit das Publikum einzuschätzen lernt, worauf es inwiefern setzen kann.
      Den Unterschied kann man aber nur durch Wissenschafts-Prozess-Geschichten erläutern, also Geschichten von Menschen, die etwas erforschen. Wenn man die Entstehung der Homöopathie-Weisheiten rekonstruiert, müsste doch klar sein, dass nur sehr autoritätsgläubige Leute noch sagen können: “Hey, ich bin überzeugt, dass die dabei herausgekommenen Aussagen zuverlässig wahr sind.”
      Leider ist es aber so, dass man, wenn man kritisch und ehrlich ist, auch in der Darstellung von wissenschaftlichen Fortschritten solche Punkte erreicht, wo es nicht mehr völlig plausibel ist, warum das eine nun mit Sicherheit wahrer sein sollte als das andere. Das ist ja das Wesen einer reflexiven, skeptischen Wissenschaft, dass sie (gewagte) Thesen aufstellt und diese dann reihenweise wieder verwirft.
      Wenn man ehrlich erläutern will, warum sich in einer Wissenschaft eine Präferenz für eine bestimmte Theorie herausgebildet hat, darf man wohl die dezisionistischen Stellen nicht ausblenden. Sonst unterscheidet sich nämlich Wissenschaftsfortschritt nicht mehr von Humbugfortschritt, in dem dezisionistische Elemente immer überdeckt werden. Ich merke, dass ich da eine paradoxe Haltung habe. Mein Gefühl sagt mir aber: Man darf Wissenschaft nicht als wahr darstellen, wenn man Leute überzeugen will. Denn als wahr darstellen, das können die Scharlatane besser.
      Anders ist es mit Geschichten von Erfindungen: Die funktionieren.

  3. Hans Zauner sagt:

    ich möchte bei Lars’ Kommentar einhaken: Die Leute wollen Geschichten über echte Menschen hören, nicht abstrakte Fakten präsentiert bekommen. Dazu gehört meiner Meinung nach auch, die Geschichte zu erzählen, wie neue Erkenntnisse zustande kamen und wer unter den Forschen mit den Kollegen evtl. gestritten hat und so weiter. Wenn die Leser mehr darüber erfahren, wie Wissenschaftler arbeiten, wie und warum sich neue Erkenntnisse durchsetzen und alte Ideen fallengelassen werden dann fällt es auch leichter, die EsoSchlabbersäcke zu enttarnen. Inspiriert durch die Diskussion hier, habe ich mir auf meinem Blog Gedanken darüber gemacht, wieso ich selbst den Wissenschaftlern und nicht den Esoschlabbersäcken vertraue ( http://panagrellus.de/?p=126 ). Ihr könnt ja mal zwischen zwei Bier zu mir rübergucken , aber die kurze Antwort ist: Logik, Daten, Experimente sind wichtig, aber am Ende kommt es drauf an, dass ich erlebt habe, wie Wissenschaft funktioniert.

  4. jhermes jhermes sagt:

    Wohl! Es geht ja gar nicht darum, WAS erzählt wird, ich denke, da sind wir uns weitgehend einig, dass keine Fakten hinzuerfunden werden sollten, nur um Geschichten zu vervollständigen. Es geht um das WIE – wenn ihr euch den heutigen Vortrag von Anatol Stefanowitsch anlässlich des 29c3 (ach, schaut selbst nach, was das ist) anschaut, seht ihr direkt zu Anfang ein Musterbeispiel von der Art Verpackung, die ich meine: Anatol spricht über Sprache, holt das Publikum aber da ab, wo er es zu Recht vermutet – mit einem PERL-Programm, über das er in das Thema einleitet.
    Die wahren (oder besser: Wissenschaftlich untermauerbaren) Geschichten sind müssen keineswegs die langweiligeren sein. Der Spaß kann doch gerade darin liegen, pseudowissenschaftliches Gebrabbel dadurch zu entlarven, indem man es lächerlich macht. Warum nicht mal eine Glosse schreiben zur Geschichte der verzweifelten Versuche, die Gefährlichkeit von Handystrahlung nachzuweisen? Mit Aluhut auf dem Titel.

  5. Lars sagt:

    Nur mal so als Einwurf aus der schreibenden Zunft: Geschichten im klassischen Sinne kann man eh nur über menschliche oder anthropomorphe Akteure erzählen – nicht über Fakten oder Ideen. In den Naturwissenschaften können und sollten wir deswegen Geschichten über Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erzählen, um unsere Ideen zu transportieren.

    Soweit ganz klar. Mir scheint aber dann entscheidend zu sein, welchen Konflikt man beschreibt. Da ist Vorsicht geboten: Die Gegner von Wissenschaftlern sind meist andere Wissenschaftler, aber für unsete Geschichten ist das natürlich nicht zweckmäßig.

  6. Quantenwelt sagt:

    Nein! Wenn wir den unwissenschaftlichen Geschichten unsere eigenen gegenüberstellen, haben wir schon verloren. Denn zum Einen erreichen wir damit, dass Populärwissenschaft von Pseudowissenschaft ununterscheidbar wird und zum anderen werden unsere Geschichten im Vergleich zu den Pseudowissenschaftlichen immer schlechter sein, weil sie Lücken aufweisen.
    Ich kenne ein paar populärwissenschaftliche Bücher, die recht erfolgreich Geschichten erzählen, indem sie die Lücken unserer Erkenntnis einfach mit Spekulationen auffüllen. Genau das ist aber ein Problem, weil die Lesenden dann nicht mehr erkennen können, wo die offenen Fragen sind und was Wissenschaft ausmacht. Nämlich gerade die Unterscheidung zwischen Spekulation und durch Beobachtung und Experiment gefestigte Erkenntnis.

    • KarlRainer sagt:

      Blättere ich in “Knauers grosser Religionsführer” (670 Religionen Kirchen und Kulte) sehe ich mit meiner linken Hirnhälfte die verblüffende Aehnlichkeit hierarchischer Strukturen in Tempeln und Universitäten. In unseren geografischen Regionen, als es Wissenschaft im heutigen Sinne noch nicht gab, sprach die über dem tumben Volk stehende Elite zum Beispiel Latein. Man nannte sich noch nicht Dr. sondern mindestens Priester. Je nach “Tempel”, ob in Luxor, Vatikan oder Oxford wurden und werden Geschichten am ehesten geglaubt wenn sie von ganz oben kommen. Der Hoheprister wird zum Professor, sozusagen. Mit dem Nobeldings wird man dann zum Papst. Zum Beispiel zum Krebspapst.

      Dass es mit den „Esis“ soweit kommen konnte hängt nach meiner Ansicht auch und immer mehr mit wirtschaftlichen Faktoren zusammen. Das Geschäft mit dem Placebo-Effekt blüht und gedeiht – zum Aerger der… „RUHE DAHINTEN“!

      Und die rechte Hirnhälfte?
      Nun… sie ist unter anderem Fan von Jane Goodall. Wissenschaft pur mit Schimpansen in Freiheit. Dreissig Jahre lang. Hauptpersonen Freud und Frodo. Ich bin extrem begeistert von dieser art Naturwissenschaft. Ehrlicher als mit Schimpansen geht’s ja wohl nicht. Gut, da wären noch die Bonobos… aber die… (räusper)

      Quantenwelt sagt, weiter oben:
      Nein! Wenn wir den unwissenschaftlichen Geschichten unsere eigenen gegenüberstellen, haben wir schon verloren.

      Ich sage:
      Kommt auf das Thema an. Und wie man es schmackhaft verpackt.
      Und noch was – schuld an der vielzitierten Verblödung des Volkes ist nicht der Fernseher. Schuld sind die welche die Geschichten für den Fernseher schreiben. Jaajaaa, nicht alle.

      :)

      I say. Digo eu.

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